COVID-19: Erkrankung mit vielen Gesichtern
Im März vergangenen Jahres erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den COVID-19-Ausbruch zur Pandemie. Weltweit haben sich bislang mehr als 95 Millionen Menschen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 angesteckt, über zwei Millionen Infizierte sind gestorben. Noch immer werden neue Erkenntnisse über den gefährlichen Erreger gewonnen. Forschende berichten nun, dass die Erkrankung mindestens fünf verschiedene Varianten umfasst.
Weltweit haben sich bereits über 95 Millionen Menschen mit dem Coronavirus angesteckt (Stand: 18.01.2021). Bei einem Teil der Infizierten kommt es zu schweren Erkrankungen, doch viele haben gar keine oder nur leichte Symptome. Forschende berichten nun, dass es mindestens fünf verschiedene Varianten von COVID-19 gibt.
Wie das Immunsystem auf die Infektion reagiert
Wie das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE) in einer Mitteilung schreibt, umfasst die vom Coronavirus SARS-CoV-2 verursachte Erkrankung COVID-19 nach aktuellen Untersuchungen mindestens fünf verschiedene Varianten, die sich darin unterscheiden, wie das Immunsystem auf die Infektion reagiert.
Forschende des DZNE und der Universität Bonn präsentieren diese Befunde gemeinsam mit weiteren Fachleuten aus Deutschland, Griechenland und den Niederlanden im renommierten Wissenschaftsjournal „Genome Medicine“. Die Studienergebnisse könnten zu einer effektiveren Behandlung der Krankheit beitragen.
Von symptomlos bis lebensbedrohlich
Eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 kann sich auf unterschiedliche Weise auswirken: Viele Infizierte scheinen den Virusbefall gar nicht zu bemerken. In anderen Fällen können die Auswirkungen grippeähnliche Symptome und neurologische Störungen bis hin zu einer schweren und auch lebensbedrohlichen Lungenentzündung umfassen.
„Die Einteilung von COVID-19 in milde und schwere Verläufe greift zu kurz. Die Erkrankung ist wesentlich vielfältiger und für jeden Betroffenen wünscht man sich natürlich eine Therapie, die passgenau zugeschnitten ist. Was dem einen hilft, ist bei einem anderem möglicherweise wirkungslos“, erläutert Dr. Anna Aschenbrenner, eine Wissenschaftlerin am LIMES-Institut der Universität Bonn, die auch dem Bereich Systemmedizin des DZNE angehört.
„Insofern ist es naheliegend, verstehen zu wollen, was diesen Unterschieden zugrunde liegt. Kann man sie an wissenschaftlichen Kriterien festmachen und Betroffene dementsprechend zuordnen, so erhöht das die Chancen für eine effektive Behandlung“, erklärt Aschenbrenner, die Mitglied im Exzellenzcluster „ImmunoSensation“ der Universität Bonn ist.
„Wir haben uns deshalb das Immunsystem angeschaut. Denn viele Studien weisen mittlerweile darauf hin, dass dessen Reaktion auf die Infektion mit SARS-CoV-2 eine entscheidende Rolle für den Krankheitsverlauf von COVID-19 spielt.“
Internationale Zusammenarbeit
Vor diesem Hintergrund analysierte ein Forschungsteam um Anna Aschenbrenner gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland das Blut von Menschen mit und ohne COVID-19. Diese Proben stammten von insgesamt 95 Personen, die sich auf Bonn, Athen (Griechenland) und Nimwegen (Niederlande) verteilten.
Den Angaben zufolge wurde für jede Patientin beziehungsweise jeden Patienten das sogenannte Transkriptom der Immunzellen im Blut bestimmt und dazu enorme Datenmengen mit Methoden der Bioinformatik ausgewertet. Anhand des so generierten molekularen Fingerabdrucks konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erkennen, welche Gene innerhalb der Immunzellen ein- beziehungsweise ausgeschaltet waren.
Derlei Signaturen der Genaktivität – auch „Expressionsmuster“ genannt – geben Auskunft über den Zustand von Zellen und damit auch über deren Eigenschaften und Funktionen, die sich situationsbedingt ändern können.
Das so gewonnene Blutbild war interessanterweise maßgeblich durch die Familie der „Neutrophilen“ bestimmt: Sie sind die häufigsten der sogenannten weißen Blutkörperchen und stehen in der Reaktionskette der Immunantwort recht weit vorne und werden sehr früh zur Abwehr von Infektionen mobilisiert. Die Zellen beeinflussen die Bildung von Antikörpern und zudem andere Zellen, die zur Immunität beitragen.
Stark veränderte Genstruktur
„Zunächst muss man festhalten, dass sich die Expressionsmuster der Immunzellen bei Menschen mit COVID-19 von denen gesunder Personen grundsätzlich unterscheiden. Die Genaktivität, die wir im Blut auslesen können, ist stark verändert. Aber auch unter Patienten gibt es markante Unterschiede. Auf dieser Grundlage haben wir fünf unterschiedliche Gruppen identifiziert. Wir sprechen von molekularen Phänotypen“, so Dr. Thomas Ulas, Experte für Bioinformatik am DZNE.
„Zwei davon stehen für schwere Krankheitsverläufe. Die anderen drei weisen moderatere Symptome auf.“ Laut der Mitteilung erfolgte die Einteilung ausschließlich aufgrund der Transkriptom-Daten. Erst im Nachhinein wurde dann überprüft, welchen klinischen Verläufen die einzelnen Phänotypen entsprachen.
Vergleich mit anderen Erkrankungen
Die Forschenden nutzten ihre Befunde, um COVID-19 mit anderen Krankheiten zu vergleichen und auch mit Daten von gesunden Personen. Hierfür konnten die Fachleute unter anderem auf Daten der „Rheinland Studie“ – einer Bevölkerungsstudie des DZNE im Raum Bonn – sowie auf wissenschaftliche Datenbanken zurückgreifen.
Für den Abgleich wurde ein breites Spektrum von Erkrankungen berücksichtigt: darunter virale Infekte wie Influenza (Grippe), Infektionen mit HIV und Zika, bakterielle Infekte wie Tuberkulose und bakterielle Sepsis sowie entzündliche Erkrankungen wie die rheumatoide Arthritis.
„Alle fünf COVID-19-Phänotypen unterscheiden sich von den übrigen Erkrankungen, die wir untersucht haben“, sagt Ulas. „COVID-19 hat offenbar eine einzigartige Biologie, die sich in der Genaktivität von Immunzellen im Blut wiederspiegelt. Insofern könnte man die Expressionsanalyse zur Diagnose von COVID-19 verwenden. Das wäre eine Alternative oder Ergänzung gängiger Verfahren.“
Wirkstoff-Kandidaten für die Therapie identifiziert
Die Forschenden suchten auch nach möglichen Medikamenten gegen COVID-19. Dazu nutzten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die in Datenbanken hinterlegte Wirkung von rund 900 zugelassenen Medikamenten auf die Expressionsmuster von Zellen.
„Wir haben berechnet, welche Pharmaka den veränderten Genaktivitätsprofilen der einzelnen COVID-19-Phänotypen entgegenwirken könnten“, erklärt Aschenbrenner die Vorgehensweise in einer Mitteilung. Auf dieser Grundlage konnten Wirkstoff-Kandidaten für die Behandlung identifiziert werden.
„Schon im April vergangenen Jahres haben wir zum Beispiel für Dexamethason und Baricitinib eine potentielle Wirksamkeit bei einer der von uns identifizierten Patientengruppen mit schwerem Verlauf errechnet. Diese Art von Analysen sind, so muss man deutlich sagen, keine Behandlungsempfehlungen“, so die Forscherin.
„Sie bieten jedoch sehr wohl Ansatzpunkte für die Therapieentwicklung, die dann in entsprechenden Studien überprüft werden müssen. Im Falle von Dexamethason und Baricitinib haben sich unsere Vorhersagen als richtig herausgestellt. Das ist ein Indiz für die Stärke unseres Ansatzes, Bluttranskriptome zur besseren Charakterisierung und Einteilung der Patienten zu verwenden.“ (ad)
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