Nach langem und steilem Sinkflug steigt die Inzidenz nun wieder etwas, in anderen europäischen Ländern sogar deutlich. Gleichzeitig branden zusammen mit Öffnungsforderungen erneut Zweifel auf, wie aussagekräftig die Kennziffer noch ist.
Gebannt schaut Deutschland auf die Inzidenz. Für viele war sie lange die maßgebliche Größe in der Corona-Pandemie: Bleibt der Sommer entspannt und ist sogar ein Ende aller Maßnahmen in Sicht – oder sind wieder Einschränkungen nötig? Ein Blick auf die aktuelle Corona-Lage in Deutschland und die Frage, wie aussagekräftig die Inzidenz tatsächlich ist.
Die Zahlen zur Corona-Lage in Deutschland
Die 7-Tage-Inzidenz war seit April kontinuierlich von fast 170 auf unter 5 gesunken. Seit einigen Tagen steigt sie wieder auf niedrigem Niveau. Am Sonntag gab das Robert Koch-Institut sie mit 6,2 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen an. Experten hatten den Anstieg unter anderem wegen der ansteckenderen Delta-Variante erwartet, die das Infektionsgeschehen in Deutschland mittlerweile dominiert. Gleichzeitig werden nur noch sehr wenige Corona-Tote gemeldet und die Zahl der Corona-Patienten, die intensivmedizinisch betreut werden müssen, ist sehr stark zurückgegangen. Mehr als 42 Prozent der Bevölkerung sind bereits vollständig geimpft.
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Debatte über weiteres Vorgehen in der Pandemie
In der politischen Diskussion über den richtigen Umgang mit der aktuellen Situation wurden am Wochenende gleichermaßen Warnungen vor weiteren Lockerungen laut, wie auch Forderungen nach einem absehbaren Ende der Beschränkungen.
Zur Vorsicht rieten Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) oder Familienministerin Christine Lambrecht (SPD). Die Linke forderte zunächst einen Stopp weiterer Corona-Lockerungen. Bouffier rief dazu auf, noch «zumindest drei Monate» abzuwarten, um die Lage besser einschätzen zu können.
Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) plädierte für weitere Lockerungen bei deutlich steigender Impfquote. «Je mehr Menschen geimpft und getestet sind, desto mehr verliert der Inzidenzwert allein an Aussagekraft.» Ähnlich argumentierten die stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Bärbel Bas und Dirk Wiese in einer gemeinsamen Stellungnahme.
Die FDP forderte die Bundesregierung auf, bis zum Ende der Sommerpause ein Konzept für den geordneten Ausstieg aus Sonderregelungen in der Corona-Pandemie vorzulegen. Wirtschaftsverbände sprachen sich gegen erneute harte Maßnahmen aus, auch bei steigenden Corona-Zahlen.
Blick richtet sich nach Großbritannien
Aufmerksam wird von Deutschland aus die Lage in Großbritannien beobachtet. Dort liegt die 7-Tage-Inzidenz bereits wieder bei über 280. Gleichzeitig dürfte Premier Boris Johnson am Montag verkünden, dass alle verbliebenen Corona-Regeln im größten Landesteil England zum 19. Juli aufgehoben werden.
Die Briten haben im Zuge der Ausbreitung der Delta-Variante seit Anfang Juni eine deutlich ansteigende Neuinfektionszahl gesehen. Auch die Zahlen der Todesfälle und Krankenhauseinweisungen steigen, sie sind aber bislang noch äußerst niedrig. Die Briten bejubeln das als Erfolg ihrer zügig voranschreitenden Impfkampagne. Der oberste britische Statistiker Ian Diamond sagte am Sonntag dem Sender Sky News, die Verbindung zwischen Infektionen und Klinikeinweisungen, schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen habe sich deutlich abgeschwächt.
Was der Inzidenz-Anstieg bedeutet – und was nicht
Die Inzidenz gilt unter Experten weiterhin als Anzeiger dafür, wie sich das Virus in der Bevölkerung verbreitet. Die zentrale Frage sei, wie die stärkere Verbreitung des Virus zu interpretieren ist, sagte der Statistiker Helmut Küchenhoff von der Uni München der Deutschen Presse Agentur. Der aktuelle Inzidenz-Anstieg sei zwar "vielleicht ein Grund für Nervosität, aber noch kein Grund, um Lockerungen zurückzunehmen". Man müsse erstmal abwarten, um die Auswirkungen auf die tatsächliche Zahl der Erkrankungen absehen zu können.
Wie sich der Blick auf die Zahlen ändert
Viele Fachleute sind sich darin einig, dass mit zunehmendem Impfschutz in der Bevölkerung die Inzidenz in einem anderen Verhältnis zu schweren Verläufen steht als noch vor einigen Monaten. Wie groß dieser Unterschied ist, ist schwer einzuschätzen. Küchenhoff plädiert dafür, bei der Inzidenz in erster Linie auf die älteren Menschen zu blicken, da diese besonders anfällig für schwere Verläufe seien. Zuletzt war der Wert für Menschen ab 60 Jahren laut RKI-Daten weniger als halb so hoch wie in der Gesamtbevölkerung – und stieg laut Berechnungen Küchenhoffs zuletzt auch nicht. Das dürfte auch an der höheren Impfquote bei Älteren liegen.
Die Sicht des RKI
Das RKI gab noch Anfang Juni in einem Strategiepapier die 7-Tage-Inzidenz als einen von zwei Leitindikatoren bei der Bewertung der Corona-Lage an. Zuletzt schrieb das RKI in seinem Lagebericht "Die Rücknahme von Maßnahmen sollte aus epidemiologischer Sicht unbedingt schrittweise und nicht zu schnell erfolgen." Zudem verweist das RKI in einer anderen Analyse darauf, dass sich die zunehmende Dominanz der Delta-Variante vor allem dann auf die Intensivstationen auswirkt, wenn die Impfquoten bei den 12 bis 59-Jährigen "bei 75 Prozent oder gar 65 Prozent stagnieren und gleichzeitig eine komplette Öffnung stattfindet".
Alternative Kennzahlen
Das schon früh ausgegebene Ziel der Politik ist es, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten und schwere Erkrankungen sowie Todesfälle zu vermeiden. Aus Sicht von Küchenhoff sollte man genau auf diese Parameter schauen – also beispielsweise wieviele Neuaufnahmen von Corona-Fällen es in Kliniken gibt. Das Bundesgesundheitsministerium gab am Sonntag bekannt, dass Krankenhäuser künftig verpflichtet werden sollen, alle Krankenhausneuaufnahmen wegen Corona zu melden. Bisher wird lediglich die Zahl der Intensivpatienten zentral erfasst.
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