Um das Coronavirus besser zu verstehen und zu bekämpfen, forschen Wissenschaftler derzeit mit Hochdruck. Ihre neuen Erkenntnisse veröffentlichen sie nun oft schon auf preprint-Servern – ohne die Begutachtung von Experten. Kritiker fürchten, dass dabei die Sorgfalt zu kurz kommen könnte.
Täglich gibt es zahlreiche neue Studien. Eine Flut an wissenschaftlichen Ergebnissen ergießt sich über die Welt – viele davon in einem noch vorläufigen Zustand auf sogenannten Preprint-Servern. Der Hintergrund ist nachvollziehbar: Forscher versuchen so schnell es eben geht, Erkenntnisse über das Coronavirus SARS-CoV-2 zu erlangen. Sie versuchen aufzuzeigen, wie wir es zurückdrängen können – unter großer Unsicherheit.
Die Frage ist nun: Kann bei dieser Geschwindigkeit die gute wissenschaftliche Praxis eingehalten werden?
Die beiden US-Ethiker Alex John London und Jonathan Kimmelman sehen das eher kritisch. Sie veröffentlichten zu der Frage einen Beitrag im Fachblatt "Science". Die beiden Wissenschaftler entlarven darin Rechtfertigungen im Hinblick auf die verminderte Qualität in Krisenzeiten. Zudem zeigen sie Kriterien auf, anhand denen gute wissenschaftliche Praxis gesichert werden könne.
Beispielhaft für nachlassende Qualität seien etwa, dass sich Politiker auf die Wirksamkeit eines bestimmten Medikaments eingeschossen haben. Dass hektisch kleine Studien gestartet und Zwischenergebnisse auf Pressekonferenzen veröffentlicht werden, die wiederum als Basis für politische Entscheidungen dienen sollen. Informationen aus einem Interview mutieren hingegen zum Bewies für strengere Abstandsregelungen beim Joggen.
Die Ethiker betonen, dass wissenschaftliche Prozesse für gewöhnlich anders abliefen, eher ausgeruht. Kleinschrittige Hypothesen würden anhand aufwendig geplanter Studien untersucht, Daten ausgewertet und Ergebnisse erst unabhängigen Wissenschaftlern vorgelegt, bevor sie nach einem teilweise langen Prozess in einem Fachjournal veröffentlicht würden. Die aktuelle Coronakrise beschleunige diesen Prozess auf allen Ebenen.
Denn indem Wissenschaftler ihre Ergebnisse schon vorläufig auf sogenannten preprint-Servern zur Verfügung stellten, erfahre die Öffentlichkeit über Journalisten und Soziale Medien früher darüber.
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Studien sollten nicht von Standards wissenschaftlicher Qualität abrücken
"Die Autoren des Beitrags in ‚Science‘ weisen zu Recht darauf hin, dass die Einhaltung methodischer Standards von zentraler Bedeutung für die Qualität wissenschaftlicher Arbeit ist – in ‚normalen‘ ebenso wie in Krisenzeiten", erklärt auch Peter-André Alt, der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Bonn. Er betont: "Auch wenn neue Forschungserkenntnisse zu Covid-19 von Wissenschaft und Öffentlichkeit derzeit besonders stark nachgefragt sind und sich Forschende mit hohen Erwartungen der Gesellschaft konfrontiert sehen, darf keinesfalls von den Standards guter wissenschaftlicher Praxis abgerückt werden."
Preprint-Veröffentlichungen seien mittlerweile in vielen Disziplinen etabliert und stellten eine gute Möglichkeit dar, Forschungsdaten und -ergebnisse schnell zu teilen. Forschenden sei dabei stets bewusst, dass diese Paper noch kein qualitätssicherndes Peer-Review-Verfahren durchlaufen hätten, sie können die Studien entsprechend einordnen. Für eine breitere Öffentlichkeit dürften solche Publikationen unmittelbar jedoch nur von begrenztem Wert sein.
"Es handelt sich um Fachveröffentlichungen, die von und für Spezialisten verfasst wurden und für Laien daher oft wenig verständlich sind“, erklärt Alt.
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"Unverzüglich und ohne Konkurrenzdenken"
"Der Laien-Öffentlichkeit sollte zudem bewusst sein, dass, wer Preprints liest und die Ergebnisse interpretiert, gute und weniger gute Wissenschaft unterscheiden können sollte", findet auch Anette Schmidtmann von der Deutschen Forschungsgemeinschaft Bonn. "Problematisch wird es, wenn außerhalb der Wissenschaft – etwa von Journalisten – versucht wird, Ergebnisse einzuordnen, deren Vorläufigkeit nicht eindeutig nachvollziehbar ist." Aus ihrer Sicht sollte daher sowohl von den Wissenschaftlerinnen, als auch in der medialen Berichterstattung stets klar und nachvollziehbar die Vorläufigkeit der Forschungsergebnisse gekennzeichnet werden."
Dennoch hält Schmidtmann es aus fachlicher Sicht für erfreulich, dass Forschungsergebnisse "unverzüglich und ohne Konkurrenzdenken" geteilt würden. Somit könnten diese für weitere Forschungen verwendet werden.
Mittlerweile wurde eine EU-Plattform ins Leben gerufen, die es Wissenschaftlern aus ganz Europa ermöglicht, ihre Forschungsergebnisse zu teilen.
"Gesellschaft erwartet Antworten"
"Natürlich leidet die Qualität von Wissenschaft bei Zeitdruck", erklärt auch Thomas Hartung von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health. "Aber die Gesellschaft erwartet Antworten in Zeiten der Krise." Es sei besser, von einem Wissenschaftler informiert zu werden, als von einem Freund auf Facebook. "Wir als Wissenschaftler können nicht Milliarden an Steuergeldern kassieren und uns dann in einer Krise in unseren Elfenbeinturm zurückziehen. Alles in Ruhe tun, kommt sicher zu spät. Das erinnert an den Medizinerwitz, der Pathologe weiß alles, aber zu spät.“
Hartung sieht auch das positive an den Entwicklungen der letzten Monate. "Covid-19 ist schon jetzt eine wissenschaftliche Erfolgsgeschichte: Die ersten Fälle gab es im November 2019 und innerhalb von Wochen war der Erreger identifiziert, Diagnostik entwickelt, experimentelle Modell verfügbar und eine eindrucksvolle Zahl von klinischen Studien auf dem Weg: 18 Impfstoffe werden untersucht und am 19. April 2020 zählte das Cochrane-Register 1684 Covid-19-Studien – 637 für neue Therapien und 781 zur Behandlung mit existierenden Maßnahmen.“ Mittlerweile zählt das Cochrane-Register bereits 2101 Covid-19-Studien. (Stand: 24. April, 12 Uhr)
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