Gesünder ist es, kein Brot und andere glutenhaltige Lebensmittel zu essen, das glauben immer mehr Menschen. Oft wird das belächelt. Doch für Weizenverzicht gibt es nachweislich noch mehr medizinische Gründe als Zöliakie, wie neue Untersuchungen beweisen. FOCUS Online sprach mit einem Wissenschaftler, der zu diesem Gebiet forscht.
Fast jeder kennt inzwischen jemanden, der sich glutenfrei ernährt, also auf Weizen und einige andere Getreide verzichtet oder isst vielleicht sogar selbst keinen Weizen mehr. Doch Weizen liefert eine Fülle an wertvollen Nährstoffen und ist als Rohstoff für Brot und Gebäck das wichtigste Grundlebensmittel. Weltweit steigt der Weizenverzehr massiv an, sogar in Ländern, die früher traditionell auf Reis setzten, so wie China und Indien. Noch niemals zuvor wurde so viel Weizen verzehrt wie heute.
Weizen ist Lebensmittel mit hochriskantem Potenzial
„In diesem Zuge nehmen aber auch Unverträglichkeiten und bestimmte Krankheiten zu, denn Weizen ist das Lebensmittel, das vielleicht mit Abstand der wichtigste Trigger für diese Probleme ist“, erklärt Detlef Schuppan, Direktor des Institut für Translationale Immunologie, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Professor an der Harvard Medical School in Boston, USA.
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Der Gastroenterologe hat zu diesem Thema zahlreiche wissenschaftliche Studien durchgeführt und entscheidende Entdeckungen gemacht, und dabei mit seinen Forschungsarbeiten zur Zöliakie sowie seiner Entdeckung weiterer mit Weizen verbundener Erkrankungen Grundlagenforschung betrieben und internationale Preise errungen.
Jetzt hat er die Weizenproblematik auch in einem Buch durchleuchtet.
Weizen ist extrem hochgezüchtet – mit dramatischen Folgen
Dass Weizen, der von Menschen bereits seit Jahrtausenden angebaut und gegessen wird, mit Gesundheitsrisiken behaftet ist, erscheint zuerst mal unverständlich. „Weizen machte vor 5.000 in Europa Jahren nur einen kleinen Teil des Speiseplans aus, vergleichbar etwa heute mit Hirse“, stellt der Wissenschaftler klar. Seitdem wurde Weizen ständig weitergezüchtet, alle paar Jahre werden allein in Deutschland fünf bis zehn primäre Weizensorten neu angebaut.
In diesem Zuge wurde der Chromosomensatz des Urweizens, dem Einkorn, von einem doppelten zu einem sechsfachen mit mehr als 103.000 Genen vermehrt. „Das ist mit entsprechend vielen Proteinen verbunden und auf jedes kann das Immunsystem empfindlich reagieren“, erklärt Schuppan den Grund, warum Weizen zahlreiche Beschwerden auslösen und Krankheiten begünstigen kann. Zum Vergleich: Der Mensch hat 23.000 Gene; Hirse, Kartoffeln, Mais und Reis zwischen 19.000 und 39.000.
Beschwerden durch Weizen – unterscheiden zwischen Unverträglichkeit und Entzündung
Dabei ist es wichtig, die Problematik durch Weizenproteine klar zu definieren nach entzündlichen und nicht entzündlichen. Die entzündlichen Sensitivitäten haben Krankheitswert. Viele Menschen verwechseln sie mit Unverträglichkeiten, die keinen Krankheitswert haben: „Unverträglichkeiten bedeutet, mal Blähungen zu haben, mal etwas Durchfall“, erklärt der Experte die eher harmlosen Beschwerden. Auslöser für diese eher harmlosen Unverträglichkeiten sind drei verschiedene Inhaltsstoffe von Weizen und anderem Getreide:
1. FODMAPs, die Abkürzung steht für fermentierbare Oligo-, Di-, Monosaccharide und Polyole, das sind bestimmte Kohlenhydrate in Getreide, Obst und Gemüse. Allerdings sind FODMAPs sehr wichtig für eine gesunde Darmflora, sind sozusagen die Nahrung für die günstigen Darmbakterien. „Ein Verzicht auf FODMAPs ist auf Dauer nicht möglich, schadet dem Darm und damit der Gesundheit“, warnt der Experte. Denn der Darm ist das größte Immunsystem des Körpers.
2. Fruktose
3. Glukose
Bei den Problemen durch FODMAPs, Fruktose und Glukose handle es sich um Unverträglichkeiten, die auf jeden Fall nicht das Leben verkürzen, fasst Detlef Schuppan noch einmal zusammen. Dabei kommt es immer auf die Dosis der verursachenden Inhaltsstoffe an, in größeren Mengen führen sie bei den meisten Menschen zu den harmlosen Verdauungsproblemen.
Vier verschiedene Formen von Entzündungen durch Weizen
Ganz anders ist das mit entzündlichen Krankheiten, den Sensitivitäten, die durch Getreide wie Weizen hervorgerufen werden können oder sie begünstigen. Dabei handelt es sich um vier verschiedene, die bekannteste ist darunter
1. Zöliakie – wenn Gluten krank macht
Die Unverträglichkeit von Gluten, dem Klebereiweiß in Weizen und anderen Getreiden wie Dinkel, Roggen, Emmer ist inzwischen gut erforscht. Detlef Schuppan hat beispielsweise ein bestimmtes körpereigenes Enzym identifiziert, das dabei die tragende Rolle spielt: die Gewebetransglutaminase. Dieses Enzym macht Gluten sozusagen „scharf“, also immunologisch wirksam, erst dadurch löst das Eiweiß eine Entzündung aus.
Mit einem einfachen Bluttest auf Antikörper gegen dieses Enzym, den Schuppan mit einem Team entwickelt hat, lässt sich Zöliakie sicher und nahezu 100prozentig diagnostizieren. Die Autoimmunkrankheit ist erblich, rund ein Drittel der Bevölkerung hat die Veranlagung, doch nur ein 30stel von ihnen erkrankt.
Pille gegen Zöliakie wird bereits an Patienten geprüft
Weltweit ist rund ein Prozent der Bevölkerung betroffen, auch in Asien. Die Symptome sind oft unspezifisch, fast immer aber kommt es zu einem Abbau der Darmzotten, was dazu führt, dass Nährstoffe nicht mehr aufgenommen werden können. Die Folgen können massive Verdauungsprobleme, Durchfälle und damit auch ein Nährstoffmangel sein. Das hat dramatische Konsequenzen, die von Blutarmut bis zu weiteren Autoimmunkrankheiten reichen (etwa rheumatische und Schilddrüsen- Erkrankungen) sowie Krebs, etwa sonst seltene Dünndarmtumore und Non-Hodgkin-Lymphom.
Absolut glutenfrei essen ist die Basistherapie bei Zöliakie, doch trotz strikter Diät haben manche Patienten weiterhin Probleme. Deshalb werden momentan Medikamente entwickelt. Besonders vielversprechend sei, so der Forscher, die Entwicklung einer Pille, die diese Transglutaminase hemmt. „Die klinische Studie unter Teilnahme von 18 europäischen Zentren ist fast beendet und es gibt Hoffnung, dass dieses Medikament hilft“, berichtet er von der aktuellen Forschung.
2. Klassische Weizenallergie
Noch seltener ist die Weizenallergie, eine Allergie vom Soforttyp. Die Reaktion tritt schon wenige Minuten nach Kontakt mit Weizen auf. Die Symptome sind Rötung, Schwellung, Atemnot, Juckreiz, aber auch Bauchschmerzen. Allergietests sichern die Diagnose, in Zukunft muss Weizen auf jeden Fall gemieden werden. Betroffen sind relativ wenig Menschen, der Experte schätzt ihre Zahl auf 0,2 Prozent der Bevölkerung. Jedoch ist die Berufsgruppe der Bäcker viel häufiger betroffen (Bäckerasthma).
3. Atypische Getreideallergien sind oft Ursache für den „Reizdarm“
Wesentlich häufiger ist eine bisher nicht bekannte Variante der Weizenallergie, die sogenannte atypische, die von Detlef Schuppan und Kollegen entdeckt wurde. „Rund 30 Prozent der Reizdarm-Patienten haben demnach vermutlich eine atypische Getreideallergie, berichtet der Wissenschaftler. Die Betroffenen leiden oft täglich unter Verdauungsproblemen, vergleichbar mit einem ständigen Magen-Darminfekt:
- Bauchschmerzen
- Blähungen
- Durchfall und/oder Verstopfung, auch im Wechsel
- Gefühl, dass der Darm nie richtig leer ist
Oft werden die Betroffenen nicht richtig ernst genommen und mehr oder weniger als Hypochonder abgestempelt, „denn mit den klassischen Labormethoden und Endoskopie ließ sich keine Ursache feststellen“, erklärt Detlef Schuppan. Die Laborwerte sind meist in Ordnung, Magen- und Darmspiegelung bringen keine pathologischen Veränderungen zu Tage.
Weil jedoch so viele Menschen vermeintliche Reizdarm-Beschwerden haben – sie machen rund 30 Prozent der Patienten in der gastroenterologischen Praxis aus – steht momentan die praktische Umsetzung der neuen Erkenntnisse im Vordergrund.
Neuer Test auf atypische Weizenallergie
„Viele berichten, dass bei einer Fastenkur ihre Beschwerden abnehmen, darum haben wir probeweise bei Patienten die Diät umgestellt“, berichtet der Experte. Bei unserer hypoallergenen Diät bekamen die Patienten zunächst über drei Tage ausschließlich Reis oder Kartoffeln, Wasser, Olivenöl sowie etwas Salz. Innerhalb dieses Zeitraums nahmen die Beschwerden bei zwei Drittel der Patienten deutlich ab. Demnach besteht tatsächlich ein Nahrungsmittel-Problem.
Um das exakt nachzuweisen und die auslösenden Lebensmittel zu identifizieren, setzten Detlef Schuppan gemeinsam mit Professor Annette Fritscher-Ravens, London, eine neue Methode ein, die Vergrößerungs-Endoskopie. Dabei wird das Endoskop über Speiseröhre und Magen zum Dünndarm geführt. Dort applizierten die Ärzte nach und nach winzige Mengen verschiedener, besonders häufiger Nahrungsmittelbestandteile (Weizen, Milch, Soja und Hefe), die unter Verdacht stehen, Beschwerden auszulösen.
Dann beobachteten die Mediziner die Reaktion der Dünndarmschleimhaut. Mit der Vergrößerungs-Endoskopie ließen sich dann die Veränderungen genau erkennen. Zwei Drittel der Patienten reagierten innerhalb von Sekunden mit einer sichtbaren Entzündung und Darmschädigung wie bei einer schweren Allergie: die Mehrzahl, 60 Prozent, auf Weizen (20 Prozent auf Hefe, 5 bis 10 Prozent auf Milch und Soja).
Beschwerden nehmen weit mehr als die Hälfte ab
Dass Weizen dabei mit Abstand an erster Stelle steht, erklärt sich wiederum mit der Tatsache, dass Weizen das komplexeste Genom besitzt und damit aus vielen verschiedenen Proteine zusammengesetzt ist, bekanntlich den Auslösern für Allergien. Die Diagnose lautet atypische Weizenallergie, denn die Beschwerden kommen nicht so massiv und zeitnah wie bei der klassischen Allergie, sondern oft erst nach Stunden, Tagen und zwar exakt als jene Symptome, die bisher als Reizdarmbeschwerden galten. Sie beeinträchtigen die Lebensqualität massiv, weil sie ja ständig quälen – ohne dass bis jetzt eine Ursache gefunden werden konnte.
Bei atypischer Weizenallergie gilt: Weizen meiden, dann gehen die Beschwerden im Durchschnitt um Dreiviertel zurück, stellt Detlef Schuppan in Aussicht. Das sei mehr, als alle bisherige Therapien gegen Reizdarm schaffen. Auch die bei Reizdarm oft empfohlene FODMAP-Diät würde nur kurzfristig wirken. Sie schließt einige Hauptallergene aus, doch kein Patient könne diese strikte Diät länger als vier Wochen durchhalten, ohne dass das Darm-Mikrobiom leidet, denn FODMAPS sind für ein gesundes Darm-Mikrobiom unersetzlich.
4. ATI Sensitivität – riskante Weizenproteine, aber nicht Gluten
Abgesehen von Zöliakie und Allergien musste es jedoch noch eine weitere entzündliche Krankheitsgruppe durch Weizenproteine geben, so vermutete Detlef Schuppan. Es gab immer wieder Patienten mit Beschwerden, die auch außerhalb des Darms lagen und etwa die Gelenke betrafen – unter glutenarmer Diät besserten sich die Beschwerden. Nachweislich lag jedoch keine Zöliakie vor und keine Allergie.
Der Wissenschaftler und seine Mitarbeiter an der Harvard-University suchten deshalb nach verschiedenen Glutenproteinen, die Entzündungen auslösen könnten, blieben dabei jedoch erfolglos. Bei den Studien fanden sie jedoch andere Weizenproteine, die ATIs (Amylase-Trypsin-Inhibitoren), die entzündungsfördernd wirken.
Wichtig: Weizen enthält zu ca. 10 Prozent Proteine.
- 85 Prozent davon sind Glutenproteine,
- 15 Prozent Nichtgluten-Proteine, davon wiederum 20 Prozent ATI
- also 3 Prozent des Gesamtweizenproteins sind ATIs.
Welche Getreidesorten wie viel ATIs enthalten ist momentan Gegenstand zahlreicher Untersuchungen, denn der Gehalt dieser Nichtgluten-Proteine kann stark variieren. Noch ist aber unbekannt, welche Sorten viel und welche wenig davon enthalten. Sicher ist jedoch, dass ATIs in allen Getreidesorten zu finden sind, die Gluten enthalten.
ATIs können Entzündungen auslösen und unterstützen, indem sie im Darm einen Rezeptor (TLR4) auf Entzündungszellen aktivieren und diese damit scharf machen. Die dadurch mobilisierten Entzündungszellen können chronisch entzündliche Darmerkrankungen unterstützen. Sie verlassen aber auch den Darm, wandern über die Blutbahn in andere Organe und können im Körper verschiedenste entzündliche Krankheiten, Stoffwechselerkankungen und Autoimmunerkrankungen verstärken:
- Typ 2 Diabetes,
- Fettleberhepatitis,
- entzündliche Leber- und Lungenfibrose
- rheumatoide Arthritis,
- multiple Sklerose
- Lupus erythematosus,
- Pollenallergien und Nahrungsmittelallergien
„Jede dieser Erkrankungen besserte sich deutlich unter ATI-armer Diät oder der Krankheitsverlauf wurde milder, das zeigen unsere Untersuchungen", sagt der Experte. Zur Inzidenz der ATI-Sensitivität gibt es vorerst nur Schätzungen. Basierend auf den neuen Erkenntnissen könnten jedoch vermutlich alle Patienten mit den aufgeführten Erkrankungen von einer weizenreduzierten Ernährung profitieren – also mindestens 15 Prozent der Bevölkerung. „Betroffene, also wer eine chronische Erkrankung hat, sollte deshalb einfach mal probieren, über mindestens zwei Wochen Gluten und damit ATIs zu meiden, indem er auf alle offensichtlichen Glutenquellen (Brot, Nudeln, Pizza etc.) verzichtet, denn es kommt dabei auf die Dosis an; auf versteckte Mengen, z.B. etwas Mehl in einer Soße, muss man nicht hier achten“, empfiehlt Detlef Schuppan. Dazu laufen derzeit fünf klinische Studien zu den einzelnen Erkrankungen, die diesen Effekt an Patienten systematisch und kontrolliert prüfen .
Glutenarme Diät ist immer einen Versuch wert…
Glutenfreie oder glutenarme Diät könnte also nicht nur für Zöliakie-Patienten sinnvoll sein, wobei diese Patienten jedoch nicht mal ein Stäubchen Mehl vertragen. Schließlich könnte jeder, der den Verdacht hat, eine weizenbedingte Erkrankung oder Unverträglichkeit zu haben, das mit einer glutenfreien Diät testen, weil damit auch ATIs reduziert sind.
Zwar sollte im Prinzip immer eine Untersuchung vom Facharzt vorangehen. Doch vor allem, wenn der Verdacht auf entzündliche Krankheiten besteht, die sich nicht sicher diagnostizieren lassen – etwa Fibromyalgie, seronegative rheumatische Erkrankungen oder Allgemeinbeschwerden, die sich laborchemisch nicht nachweisen oder begründen lassen – ist die weizenfreie Diät immer einen Versuch wert. Der Experte hat bei Patienten hier schon dramatische Verbesserungen durch weitgehend weizenfreie Ernährung gesehen. Die Evidenz sei deutlich.
… und kann spürbare Verbesserungen bringen
Die Palette an glutenfreien Produkten ist inzwischen riesengroß, Mangelernährung droht also nicht, „diese Diät ist vollwertig und schadet nicht“, beruhigt der Experte. Bessert sich der Zustand nach zwei bis vier Wochen nicht, kann zu den früheren Ernährungsgewohnheiten zurückgekehrt werden.
Fazit: Proteine von Weizen und einigen anderen verwandten Getreidesorten können zu Beschwerden und Krankheiten führen. Die bekannteste ist dabei Zöliakie. Diese massive Glutenunverträglichkeit betrifft aber nur ein Prozent der Bevölkerung. Daneben spielt die klassische Weizenallergie sogar eine noch kleinere Rolle.
Zwei neu entdeckte Erkrankungen in Zusammenhang mit Getreideeiweißen haben jedoch eine wesentlich höhere Häufigkeit, wie die atypische Weizenallergie mit rund fünf Prozent, die ATI-Sensitivität mit bis zu 15 Prozent. Vor allem Reizdarm-Patienten haben oft in Wirklichkeit eine atypische Weizenallergie.
All diese Patienten profitieren von Glutenverzicht, weil glutenarm und glutenfrei auch bedeutet, dass weniger oder keine ATIs oder auch atypische Allergene enthalten sind. Wäre es vor dem Hintergrund dieser neuen Erkenntnisse über die Gesundheitsrisiken von Weizen und anderer glutenhaltigen Getreidesorten dann nicht für jeden von uns sinnvoll, wenigstens ein bisschen weniger davon zu essen?
Von Allgemeinempfehlungen möchte sich der Experte zurückhalten, allerdings verrät er, dass in seinem Umfeld inzwischen fast jeder seinen Getreideverzehr aufgegeben oder zumindest eingeschränkt hat.
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