Melodie Michelberger, wie hast du gelernt, dich selbst zu lieben?

Wenn Melodie Michelberger über ihr Leben spricht, ist sie offen, freundlich und schonungslos ehrlich. Die Frau, mit der ich an einem der wenigen Frühlingstage per Videokonferenz im Garten sitze, scheint mit sich im Reinen zu sein. "Warum auch nicht?", denke ich. Das vielleicht Mutigste liegt bereits hinter ihr. Melodie hat ihre ganz persönliche Geschichte aufgeschrieben und ziert das Buchcover, das neben mir auf dem Tisch liegt. "Body Politics" steht darauf – ein Titel der groß daherkommt und nicht weniger will. Denn ihre Geschichte könnten so auch viele andere Menschen schreiben, die sich und ihre Körper immer wieder dem grenzenlosen Druck eines Idealbildes aussetzen, das nur die wenigsten erreichen. Die Stimme einer Bewegung also? Vielleicht. Ganz sicher aber ist sie eine Mutmacherin, die heute viel erzählen kann über ihren Weg zur Selbstliebe und über die Freude, endlich sie selbst zu sein.

Melodie, was bedeutet Selbstliebe für dich?

Selbstliebe bedeutet für mich Selbstfürsorge. Ich möchte auf mich und meinen Körper achten und darauf, wie ich mit mir umgehe. Esse ich genug? Habe ich Menschen um mich herum, die mir guttun? Es bedeutet auch, einen liebevollen Blick auf mich zu entwickeln und empathisch mit mir umzugehen. Das habe ich 30 Jahre lang viel zu wenig getan.

Das musst du genauer erklären.

Ich habe meinen Körper lange behandelt, als wäre er mein Gegenspieler oder mein Feind. Als müsste ich ihn kontrollieren und im Schach halten. Sonst würde er sein eigenes Ding machen, sonst würde ich verlieren. Das will ich nicht mehr. Mein Körper gehört zu mir, ich will ihm eine gute Freundin sein. Ich habe schließlich nur diesen einen Körper – und nach allem, wie ich mit ihm umgegangen bin, kann ich nur dankbar sein, dass er immer noch da ist.

Zur Person

Melodie Michelberger hat viele Jahre als Redakteurin für mehrere Frauenzeitschriften geschrieben und war PR-Expertin bei verschiedenen Modelabels. Heute bezeichnet sie sich als Feministin und Body Image Aktivistin und veröffentlichte im Januar ihr erstes Buch „Body Politics“ im Rowohlt Verlag. Melodie ist 44 Jahre alt und lebt mit ihrem Sohn in Hamburg.

Dieser Kampf mit dir und deinem Körper fing früh an. In deinem Buch erzählst du von einer Kindheit, in der dein Gewicht und deine aufmüpfige Art ständig kritisiert und thematisiert wurden. Was hat das mit dir gemacht?

Die Frauen in meiner Kindheit hatten kein positives Wort für ihre Körper oder die von anderen Frauen übrig. Meine Mutter, Oma und Tanten beurteilten und verurteilten das Aussehen anderer in ihren Kaffeerunden, als wäre es die neue Sommerkollektion im Otto Katalog. Mir wurde nie gesagt, dass ich okay bin, so wie ich bin. Der Hintern war zu groß und als Mädchen war ich zu aufmüpfig, zu wenig regelkonform. Ich habe früh gelernt, dass ich mich anstrengen muss, um liebenswert zu sein. 

Lag es also in der Verantwortung deiner Eltern, Selbstliebe überhaupt möglich zu machen?

Ich denke, es liegt in unser aller Verantwortung, dass wir Kinder nicht runtermachen, klein halten, oder ihnen falsche Körperbilder vermitteln. Wenn mein Vater zu mir "Nilpferd" sagte oder darüber lachte, dass ich einen Hintern hätte wie ein Brauereigaul, dann hinterließ das Wunden. Als Kind habe ich diese Dinge als Wahrheiten hingenommen. Erst viele Jahrzehnte später konnte ich beginnen, das zu reflektieren und zu heilen.

Hat Selbstliebe also auch etwas mit Verzeihen zu tun? Musstest du deinen Eltern verzeihen, um so selbstbewusst zu werden, wie du heute bist?

Wir werden alle erwachsen – das bedeutet für mich, dass ich traumatische Erfahrungen als Teil von mir akzeptiere, ihnen aber keinen Raum mehr gebe. Ich bin nicht wütend auf meine Eltern, sie haben ihr Bestes gegeben. Jetzt liegt es an mir, mich davon zu distanzieren und mein eigenes Leben zu leben.

Beststeller-Autorin Alena Schröder


"Wir müssen damit aufhören, unsere Gefühle immer im Griff zu haben"

Du hast für die Recherche deines Buches auch alte Tagebücher ausgegraben und dich mit teils schweren Erinnerungen konfrontiert. Warum?

Lange hatte ich eine ganz bestimmte Idee davon, wie ich früher aussah und war. Die Tagebücher haben mir gezeigt, dass dieses Bild von mir – das Mädchen, das immer zu dick und ungenügend war – gar nicht stimmte. Ich habe mich als Kind und Teenager so gehasst und wollte so sehr anders sein und anders aussehen, dass ich gar nicht mitbekommen habe, wie völlig okay und toll ich war. Wenn ich meine Tagebücher heute lese, empfinde ich ganz viel Mitgefühl für mich selbst und für mein jüngeres Ich. Ich habe so viel Zeit damit verschwendet, mich ändern zu wollen, dass ich mich selbst gar nicht richtig sehen konnte.

Heute bist du ja selber Mutter und hast einen Sohn. Was ist dir wichtig in eurer Beziehung?

Ich möchte, dass er weiß, dass er so richtig ist, wie er ist. Und ich versuche ihn dafür zu rüsten, dass die Welt ihm immer wieder etwas anderes vermitteln wird. Überall begegnen Kindern Bilder und Erzählungen, die ihnen unerreichbare Ideale vorgaukeln und Dinge verkaufen wollen. Selbstliebe ist wie ein Schutzpanzer, der all diese Dinge draußen halten kann. 

Nicht nur Kinder, auch Erwachsene und insbesondere Frauen sind diesen Bildern eines vermeintlichen Ideals ständig ausgesetzt. In deinem Fall kommen noch tausende öffentliche Kommentare dazu, in denen du wegen deines Gewichts angefeindet wirst. Wie schaffst du es, dich abzugrenzen?

Geholfen haben mir besonders die vielen Schriften von Feminist:innen, die schon seit Jahren über die Diätkultur und die kapitalistischen Strukturen hinter diesen toxischen Körperbildern schreiben. In mir fand eine Dekonstruktion alter Wahrheiten statt. Ich habe angefangen, dieses System zu durchschauen und zu verstehen worum es hier eigentlich geht. Wem hilft es, dass wir uns permanent nicht gut und schön genug fühlen, ständig etwas an uns verbessern wollen? Die Diätindustrie macht alleine in Europa jährlich geschätzt 100 Milliarden Euro Umsatz. Dabei wissen wir, dass Diäten ein völlig absurder Kreislauf sind, in dem es gar nicht darum geht, dauerhaft Gewicht zu reduzieren – wer würde sonst die ganzen Magazine und Shakes kaufen? Mir dient dieses Wissen als Stütze und Schutzschild, so kann ich mich gegen überzogene Erwartungen, die Menschen an mich haben, wehren.

Gab es auch Vorbilder in den letzten Jahren, die dir dabei geholfen haben?

Als ich bei Instagram zum ersten Mal eine dicke Frau sah, die in Unterwäsche herumtanzte, hat mich das sehr beeindruckt. 30 Jahre lang waren meine Sehgewohnheiten eigentlich dieselben geblieben, in allen Zeitschriften und auf Werbefotos strahlten mir schlanke Menschen entgegen. Das eine Frau sich so selbstbewusst und selbstverständlich zeigen konnte, obwohl sie das gängige Schönheitsideal nicht erfüllte, hat mich damals regelrecht erschüttert und ganz neue Perspektiven auf mich selbst eröffnet. Ich liebe es, dass ich mir selbst aussuchen kann, wem ich folge, dass ich Inhalte finden kann, die mich selbst spiegeln, mich herausfordern, und die mir bisher gefehlt haben.

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Wenn man zu Selbstliebe recherchiert, ist auch der Begriff des Egoismus nicht fern. Immer wieder wird das Bild einer selbstverliebten Generation gezeichnet, die sich um sich selber dreht. Gehören Selbstliebe und Egoismus für dich zusammen?

Es ist total wichtig, dass wir für uns sorgen und darauf achten, dass es uns gut geht. Ich glaube erst dann können wir für eine Gemeinschaft eintreten und auch für andere stark und liebevoll sein – auch für unsere Kinder. Diese Arbeit, die ich jetzt tue, dass ich nach außen gehe und Menschen Mut mache, die sich vielleicht unwohl in ihrem Körper fühlen, das wäre früher nicht möglich gewesen. Selbstliebe und Wertschätzung mir selbst gegenüber haben das erst möglich gemacht.

Gibt es in Sachen Selbstliebe einen Endpunkt, den du erreichen willst oder ein Ziel?

Ich möchte mit mir selbst so gut es geht und wohlwollend umgehen. Das heißt nicht, dass ich mich jeden Tag super finden muss und mich wie eine Versagerin fühle, wenn ich das nicht schaffe. Aber ich will nicht mehr daran glauben, dass ich irgendeine Körperform, einen Kontostand oder etwas anderes erreichen muss, um so zu leben, wie ich Lust habe. Ich will eine Freiheit und Selbständigkeit spüren, die mir erlaubt, ich selbst zu sein. Das ist in unserer Gesellschaft mit all ihren Normen und Urteilen eine Herausforderung, die groß genug ist.

Eine Abschlussfrage. Wenn du einen Wunsch hättest für die Gesellschaft, welcher wäre das?

Ich würde mir wünschen, dass unsere Gesellschaft nicht mehr von materialistischen Werten getrieben wird, dass Menschen nicht mehr danach beurteilt werden, welchen produktiven Mehrwert sie beisteuern, sondern wir sie so sein lassen, wie sie sind. Ich würde mir wünschen, dass wir es als Gemeinschaft schaffen, anzuerkennen, dass es so viele verschiedene Lebensrealitäten gibt, die nicht immer auf den ersten Blick erkennbar sind. Diese Empathie, dass Privilegien unterschiedlich verteilt und Diskriminierung unterschiedlich erfahren wird, könnte uns sehr dabei helfen, nicht mehr im Wettbewerb, um die kleinste Kleidergröße oder das größte Auto zu stehen.

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