Als das Coronavirus Anfang des Jahres nur eine vage Bedrohung aus China war, war Christian Drosten der Mann der Stunde. Der renommierte Virologe an der Berliner Charité forscht zu Coronaviren, zu denen auch der Erreger von Covid-19 zählt. Ein Glücksfall für den Wissenschaftsstandort Deutschland – gleich in doppelter Hinsicht.
Weg aus der Krise
Das neue Normal – wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben
Denn anders als viele seiner Kolleg*innen besitzt Drosten die Gabe, wissenschaftlich hochkomplexe Inhalte in eine verständliche Form zu gießen. Seit Beginn der Pandemie informiert er über wissenschaftliche Erkenntnisse in Zusammenhang mit Covid-19, zunächst in Interviews, später in einem eigenen Podcast. Drosten ist ein Forscher, der einordnet, erklärt, Unsicherheiten aufzeigt und vor voreiligen Schlüssen warnt.
Auch heute noch ist Drosten der Mann der Stunde – wenn auch in anderer, unschöner Hinsicht. Er bildet den Mittelpunkt einer öffentlichen Kampagne, die Drosten als ihren „Schirmherrn“ auserkoren hat, sich im Wesen aber gegen den gesamten wissenschaftlichen Betrieb richtet und teils bedenkliche Blüten treibt: So erhielten Drosten, wie auch der SPD-Politiker und Gesundheitswissenschaftler Karl Lauterbach kürzlich ein Päckchen. Darin: eine Ampulle, vermeintlich gefüllt mit virenhaltigem Inhalt, und verbunden mit der Aufforderung, die dubiose Flüssigkeit zu trinken.
Es ist der vorläufige Tiefpunkt einer Entwicklung, die sich bereits vor einigen Wochen ankündigte und mit einem Vertrauensverlust in die Wissenschaft einhergeht. Teils wurde diese Entwicklung – bewusst oder unbewusst – auch von Politikern befeuert. So verkündete NRW-Ministerpräsident Armin Laschet Ende April in einer Talkshow, Virologen würden „alle paar Tage“ ihre Meinung ändern. Was Laschet dabei – bewusst oder unbewusst – verdrängte, war die Tatsache, dass Wissenschaftler nicht über Meinungen berichten. Sondern über Erkenntnisse auf Basis wissenschaftlicher Fakten. Das aber nur am Rande.
Viel gravierender noch: Die Aussage erweckt den Eindruck, dass es in der Wissenschaft nur die eine richtige, praktisch vorgefertigte Einschätzung gebe. Ein Irrglaube, den offensichtlich auch FDP-Chef Christian Lindner teilt, da er jüngst verkündete, die Virologen sollten doch einmal „wie die Päpste“ ins Konklave gehen: „Wenn sie sich entschieden haben, sieht man weißen Rauch“. Doch das trifft das Wesen von Wissenschaft nicht einmal annähernd.
Wissenschaft ist vielmehr ein andauernder Prozess. Forscher erheben Daten, analysieren sie in Studien, diskutieren, verwerfen – oder belegen – Thesen. Sie hinterfragen die eigene Arbeit oder die von Kolleg*innen und bessern nach. Kritik ist bei diesem Prozess ein wichtiger Faktor, egal wer sie anbringt, sofern sie gerechtfertigt ist. Sie trägt dazu bei, dass gute Wissenschaft gelingt.
Kein Zurückrudern, sondern wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn
Zu Beginn einer Forschung ist nichts in Stein gemeißelt. Erkenntnisse können sich ändern, speziell bei bislang unbekannten Erregern. Das ist kein „Zurückrudern“ und kein Eingeständnis von Fehlern, sondern das Wesen wissenschaftlichen Fortschritts. Übrigens nicht erst seit Corona, sondern seit jeher. Geändert hat sich nur, dass Corona die Wissenschaft wie unter ein Brennglas stellt. Dabei dürften sich die wenigsten der neu dazugewonnenen Leser und Beobachter mit wissenschaftlicher Arbeit auskennen. Es erscheint absurd, dass Laien Forschern vorschreiben wollen, wie sie zu arbeiten haben. Wer würde das bei anderen Berufsfeldern tun, bei denen es auf Expertise ankommt? Wer würde etwa einem Architekten vorschreiben, wie er Häuser zu bauen hat? Oder einem Chirurgen, wie er das gebrochene Schienbein zu richten hat?
Jedes vorläufige Studienergebnis und jede Aussage von Forschern oder Politikern werden aktuell Minuten später zu einer Schlagzeile. Das ist nicht per se schlimm. Doch wenn übliche Diskussionen unter Wissenschaftlern zu Gelehrtenstreits erhoben und Aussagen anderer Wissenschaftler instrumentalisiert werden, um Studien in einem „grob falschen“ Licht dastehen zu lassen, ebnet das den Boden für Schlimmeres: für Virus-Leugner, wirre Päckchen-Versender und Verschwörungstheoretiker.
Halb so schlimm könnte man nun meinen – Einzelfälle, nichts weiter. Was aber, wenn selbst Politiker*innen von Fakten abrücken und stattdessen halbgaren Informationen oder kruden Theorien Glauben schenken? Das zeigt ein Blick in bestimmte Nachbarländer.
Allein in den USA sind mittlerweile 1,6 Millionen Menschen nachweisbar mit dem Coronavirus infiziert und fast 100.000 Menschen gestorben – so viele wie in keinem anderen Land. Dabei hatte US-Präsident Donald Trump noch Ende Februar erklärt, das Virus würde eines Tages wie durch ein „Wunder“ verschwinden. Brasiliens Präsident Bolsonaro hatte Covid-19 mehrfach als „kleine Grippe“ bezeichnet. Mittlerweile sind in dem Land laut Johns Hopkins University rund 25.000 Menschen im Zusammenhang mit dieser „kleinen Grippe“ verstorben. Um der hohen Anzahl von Leichen Herr zu werden, werden vielerorts Massengräber ausgehoben.
Und Deutschland? Auch hierzulande haben sich viele Menschen mit dem Erreger infiziert. Rund 8400 von ihnen haben die Erkrankung nicht überlebt. Jeder davon war und ist einer zu viel. Dennoch braucht es nicht viel Verstand, um festzustellen: Wir sind – bislang – glimpflich davongekommen. Das ist der Verdienst von zahlreichen Menschen, vor allem jenen, die sich an Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen halten. Aber auch von einer Regierung, die Wert auf Fakten legt. Und von Wissenschaftlern, die dafür sorgen, dass es mehr und mehr gesicherte Erkenntnisse über dieses Virus gibt, die dabei helfen, den Erreger einzudämmen.
Es gilt nun zu schützen, was erreicht wurde – und zu schützen, was uns in den letzten Wochen geschützt hat. Das kann schon im Kleinen beginnen, indem wir gegenhalten und richtigstellen, wenn der Nachbar Verschwörungstheorien verbreitet. Indem wir widersprechen, wenn die Kollegen behaupten, das Virus gäbe es gar nicht. Indem wir Inhalte auf ihre Richtigkeit prüfen, bevor wir sie auf Facebook und Whatsapp verbreiten. Indem wir Wissen bloßen Ängsten und wirren Theorien gegenüberstellen.
Gesicherte Fakten zu dem Coronavirus gibt es beispielsweise hier, hier und hier.
Alles über Corona
News zur Coronavirus-Pandemie
EU-Wirtschaftshilfen in Höhe von 750 Milliarden Euro – Großteil für Italien und Spanien
News zur Coronavirus-Pandemie
EU-Wirtschaftshilfen in Höhe von 750 Milliarden Euro – Großteil für Italien und Spanien
Bubble Tents im Altersheim
Besuche und sogar Berührungen möglich – spezielle Zelte geben Senioren den Lebensmut zurück
Mehr als 100 Probanden
Kleiner Durchbruch: Pharma-Unternehmen testet Covid-19-Impfstoff an Menschen
Zwischen Führungskraft und Fürsorge
Kind, Karriere und Coronakrise: Frauen berichten, wie sie die Belastung stemmen
Infektionen in Deutschland
Aktuelle Virus-Lage: Nur noch eine Stadt über der kritischen Marke von 50 Neuinfektionen
Verschwörungstheorien
Deutsche Weitspringerin verbreitet krude Thesen – Sportverbände sind machtlos
Corona-Pandemie
In fast allen Bundesländern: Kontaktbeschränkungen werden verlängert
Covid-19
Neue Studie: Berufspendler spielten große Rolle bei Ausbreitung des Coronavirus
Reisetest mit Experten
Urlaubscheck in der Coronakrise: So könnten Flugreisen und Strandurlaube 2020 aussehen
Coronavirus-Pandemie
Kontaktbeschränkungen bis Ende Juni verlängert – es gibt aber auch Lockerungen
Zahlreiche Ansteckungen
Was macht Corona-Infizierte zu den gefürchteten Superspreadern?
Klaus Cichutek
Durchimpfung der Bevölkerung ist "eine Sache von Monaten" – Medikamenten-Experte im Interview
Virologe
Nach "Bild"-Bericht: Drosten hält an Aussagekraft seiner Viruslast-Studie fest
Neuer Mode-Trend?
Boutique für Mundschutz: Köln eröffnet ersten Masken-Fashionstore
Diskussion um Lockerungen
Söder lehnt radikalen Kurswechsel in Corona-Politik ab – und kritisiert Thüringen
Techniker Krankenkasse
Krankenstand steigt im März auf Rekordhoch
Prostitution und Corona
Bordelle sollen wieder öffnen – Verband legt Hygienekonzept vor
Thüringen
Ramelow verteidigt geplante Corona-Lockerungen
Wegen der Corona-Krise
Unionspolitiker wollen Mindestlohn senken statt erhöhen – Kramp-Karrenbauer wehrt sich
Indien
Damit ihr kranker Vater nach Hause kommt: 15-Jährige fährt 1200 Kilometer Fahrrad
Quelle: Den ganzen Artikel lesen