Gerade Zähne zum Selbermachen: Was taugen Billig-Zahnschienen für Erwachsene?

Der Do-it-yourself-Starterkit für mein „Traumlächeln“ kommt in einem weißen Päckchen mit Magnetklappe, der Inhalt umhüllt mit blauem Seidenpapier. Es fühlt sich an wie Geburtstag. Zum Vorschein kommen: zwölf Tiegel mit Silikonmasse, vier „Abdrucklöffel“, Gummihandschuhe, „Wangenhalter“, Rücksendebox. Das Zubehör für meine Zahnabdrücke, die normalerweise eine Zahnarzthelferin anfertigen würde. Ihr Gehalt und die Praxismiete entfallen, zwei Erklärungen für die Dumpingpreise, mit denen derzeit einige Start-ups der Zunft der Kieferorthopäden Angst und Schrecken einjagen. Alle führen ein sonniges „smile“ im Firmennamen, manche treten als reine Internetfirmen auf. Das Versprechen: gerade Zähne in drei bis zwölf Monaten für Preise von 1390 bis 4000 Euro, Geld-zurück-Garantie bei Nichterfolg.

Ihr Angebot zielt auf Erwachsene mit schiefen Zähnen wie mich. Wir stehen im Beruf und wollen nicht, dass beim Lächeln klobige Stahlbrackets aufblitzen. Die Start-ups verkaufen durchsichtige Kunststoffschienen, sogenannte Aligner. Das US-Unternehmen Align Technology brachte sie 1997 zur Marktreife und setzte zuletzt zwei Milliarden Dollar um. Vor drei Jahren liefen die ersten Patente aus, seitdem herrscht Goldgräberstimmung.

Vorteile der Zahnschiene

Die Schienen haben einige Vorteile gegenüber Brackets: Weniger Probleme beim Zähneputzen, beim Essen bleibt nichts hängen, für beides werden sie herausgenommen. Schäden am Zahnschmelz, die häufig bei festsitzenden Spangen vorkommen, werden einer Vergleichsstudie zufolge meist vermieden. Ob dadurch das Kariesrisiko geringer wird, wurde nicht untersucht.

Über das Marktpotenzial gibt es nur Schätzungen: Einer älteren niederländischen Umfrage zufolge wünschten sich dort 14 Prozent der Erwachsenen geradere Zähne. „Das ist heute anders, ein schönes Gebiss hat einen höheren Stellenwert“, sagt Jens Urbaniak, der zusammen mit einem Börsenanalysten vor gut zwei Jahren das Start-up DrSmile gründete. Er verweist auf US-Daten, nach denen mehr als die Hälfte der Bevölkerung behandlungsbedürftige Fehlstellungen hätte. Wobei das Wort „behandlungsbedürftig“ umstritten ist, weil meist keine Krankheit vorliegt.

Vor meinen Zahnabdruck-Selbstversuch habe ich mir ein Angebot bei einer Hamburger Großpraxis eingeholt. Ich habe einen „Kreuzbiss“, die Höcker eines Seitenzahns beißen am Höcker des Gegenübers vorbei – kurz, es liegt eine höhergradige „Fehlstellung“ vor, die mir allerdings nie Probleme bereitete. Das Gebiss ließe sich in eineinhalb Jahren richten, sagt die Kieferorthopädin, die mich begutachtet. Drei Wege gebe es. Erstens: die klassische Zahnspange, 5500 Euro. Zweitens: die linguale Spange, bei der die Brackets auf die Zahninnenseiten geklebt werden. „Incognito“ heißt das Modell, die Brackets sind aus Gold: 9500 Euro. Variante drei: Aligner für 6500 Euro. Ein Vielfaches des Pauschalpreises meines Dumpinganbieters also.

Zahnabdrücke machen ist ein Rennen gegen die Stoppuhr. Silikonmasse aus zwei Tiegeln mischen, 30 Sekunden kneten, eine Wurst rollen, auf den Abdrucklöffel und so rasch wie möglich in den Mund damit, an die Zähne drücken, drei Minuten warten, dann ist sie hart. Sechs Versuche habe ich, die ersten gehen schief. Mühsam kratze ich das Silikon aus den Löffeln. Es hilft nichts, immer sind die hintersten Backenzähne nur halb drauf. Die Löffel sind zu klein. Kieferorthopäden haben für Erwachsene fünf Größen vorrätig, die Firma hat nur eine Standardgröße beigelegt. Anruf bei der Hotline: „Schicken Sie’s uns einfach, wir sehen dann.“ Ab zur Post also. Dann spreize ich mit dem „Wangenhalter“ die Lippen auf, sodass alle Zähne zu sehen sind. Ein Zombie aus „The Walking Dead“. Selfies von vorn, seitlich, Unterkiefer vorgeschoben, auf der Website des Anbieters hochladen, fertig.

So geht’s: Silikonmasse mischen, kneten und zu einer Wurst formen. Die Masse im Anschluss an die Zähne drücken und drei Minuten aushärten lassen. Danach ist der Abdruck versandfertig.

Wenn mein Fall angenommen wird, sehe ich während der Behandlung wahrscheinlich nie einen Kieferorthopäden persönlich. Die Zahnbewegungen werden am Computer vorausberechnet, dann wird ein Set mit zehn bis zwanzig Schienenpaaren verschickt, alle zwei Wochen nimmt man ein neues. Ich soll regelmäßig Fotos meines Gebisses machen, die würde ein Zahnarzt kontrollieren, erfahre ich von der Hotline. Seriös oder gefährlich?

„Geringgradige Fehlstellungen kann man so schon beseitigen“, sagt der Kieferorthopäde Thomas Drechsler aus Wiesbaden, der seit mehr als 20 Jahren mit den Kunststoffschienen arbeitet. „Höhergradige Anomalien aber gehören in die Hände eines Kieferorthopäden.“ Wie auch bei weiteren Spangenbehandlungen bestehe unter anderem die Gefahr von Wurzelschäden durch die Zahnbewegungen. „Deshalb machen wir Röntgenaufnahmen“, so Drechsler (wobei Routine-Röntgenaufnahmen bei Zahnspangen-Patienten umstritten sind). Die meisten Start-ups haben kein Röntgen im Programm. Deshalb und auch wegen seltener oder gar fehlender persönlicher Kontrolltermine attestierte der Präsident des Berufsverbandes der deutschen Kieferorthopäden (BDK) ihnen eine „eindeutige Standardunterschreitung bei Diagnostik und Therapie“.

DrSmile-Gründer Urbaniak zog wegen „verunglimpfender und wettbewerbswidriger Kritik“ gegen den BDK-Präsidenten vor Gericht – und verlor. Trotzdem dürfen die Start-ups ihre Schienentherapien weiter verkaufen. „Mittelfristig wollen wir die ganze Palette der ästhetischen Zahnmedizin anbieten“, sagt Urbaniak. Die Zeit sei günstig. Ein beträchtlicher Anteil der deutschen Zahnärzte sei älter als 55 Jahre, für den Nachwuchs aber sei die eigene Praxis oft nicht mehr das Ziel, viele suchten nach flexiblen Teilzeitjobs. Und die ästhetische Zahnmedizin boomt, eine US-Unternehmensberatung prognostiziert knapp 28 Milliarden Dollar Umsatz im Jahr 2024. „Die Branche wird sich in den nächsten Jahren grundlegend verändern“, glaubt Urbaniak.

Große Kapitalgeber entdecken das Geschäftsmodell Medizin. In den USA pumpte im vergangenen Jahr eine Private-Equity-Gesellschaft 380 Millionen Dollar in das Start-up „SmileDirectClub“, natürlich mit entsprechenden Renditeerwartungen. Die freiberuflichen Kieferorthopäden sind eines der ersten Angriffsziele dieser Investoren, andere Facharztgruppen folgen bereits.

Nach zwei Wochen erhalte ich Post: Ein neues Zahnabdruck-Set. Mein erster Versuch war „leider nicht ganz ausreichend“, heißt es in einer E-Mail. Ich mache einen Termin bei DrSmile, das Start-up betreibt in Großstädten Praxisräume, um sich von anderen Dumping-Anbietern abzusetzen. Eine Zahnarzthelferin stochert zehn Minuten mit einem Stift mit Digitalkamera in meinem Mund herum. Live sehe ich, wie sich am Bildschirm aus mehr als 3000 Einzelbildern mein Gebiss als 3-D-Grafik zusammenfügt. Ein junger Zahnarzt – kein Kieferorthopäde – begutachtet anschließend das Ergebnis. „Ihr Fall ist etwas komplizierter“, sagt er: „Ich würde gern Rücksprache halten.“ Eine Woche später ruft er mich an. „Wie drücke ich es aus? Ihr Gebiss ist wie ein altes Fahrrad. Alles funktioniert, Sie haben ja keine Probleme.“ Wenn man aber so ein Fahrrad auseinanderbaue, kriege man es vielleicht nicht mehr richtig zusammenmontiert. Bei einem Kieferorthopäden sei ich besser aufgehoben. Wie taktvoll. Aber egal! Es war nur ein Test.

Mein Fazit: Wer nur leicht schiefe Schneidezähne korrigieren lassen will, mag mit den Angeboten der Start-ups wohl einige Tausend Euro sparen, sollte aber zuvor bei einem Kieferorthopäden zur Sicherheit abklären lassen, ob er nicht auch ein „altes Fahrrad“ im Mund hat. Und sich fragen, ob es nicht cooler wäre, zu seinem Gebiss zu stehen. Denn es wäre irgendwie auch traurig, wenn bald alle mit einem perfekten Einheitsgebiss herumlaufen.

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