Angebliche »Zaubersubstanz« in Kombipräparat Drovelis: Neue Verhütungspille mit unklarem Thrombose

Wenn ein Medikament neu auf den Markt kommt, sollte man als Laie vermuten, dass es mindestens so sicher ist wie ähnliche, ältere Präparate – oder so nützlich, dass ein zusätzliches Risiko akzeptabel wäre. Das ist allerdings ein Trugschluss, wie eine kürzlich von der EU-Arzneimittelbehörde Ema zugelassene Verhütungspille zeigt.

Das Präparat mit dem Markennamen Drovelis zählt zu den Kombipillen, die ein Östrogen und ein Gestagen, weibliche Sexualhormone, enthalten. Das enthaltene Gestagen ist bekannt: Drospirenon, das Östrogen neu: Estetrol – auf der Presseveranstaltung zur Markteinführung unter anderem bezeichnet als »ganz besonderer Stoff«, »unfassbar spektakulär« und »Zaubersubstanz«.

Lieber natürlich?

Estetrol wird in der Leber menschlicher Föten produziert, für das Medikament wird es auf pflanzlicher Basis hergestellt.

Pillen können diverse Nebenwirkungen mit sich bringen: von Zwischenblutungen über Hautprobleme bis zu Stimmungstrübung. Während viele Frauen die Pille ohne jegliche Probleme gut vertragen, ist das bei einigen nicht der Fall.

Gerade unter jüngeren wird die Pille zum Teil wegen der enthaltenen Hormone abgelehnt. »Der Trend geht in Richtung vegane, glutenfreie Ernährung und Menstruationscups, um die Umwelt zu schonen. Da passen Hormone nicht dazu«, sagte die Gynäkologin Daniela Wunderlich kürzlich dem SPIEGEL.

Wenn schon Hormone, dann wenigstens natürlich oder zumindest »bioidentisch«, mag sich der Drovelis-Hersteller gedacht haben und legt zur Markteinführung passend eine Umfrage vor, laut der vier von zehn befragten Frauen »lieber ein natürlich vorkommendes Östrogen als ein künstliches nehmen würden«. Eine schöne Marktlücke für ein neues Produkt.

Leider wurden die Frauen nicht gefragt, ob sie die Natürlichkeit auch vorzögen, wenn unbekannt wäre, ob dieses Östrogen weniger schädlich wäre als ein künstliches. Genau das ist der Fall: Ob die neue Pille in Bezug auf Thrombosen sicherer oder unsicher ist, das weiß man schlicht nicht. Dass Drovelis in der EU zugelassen wurde, ohne dass man das mit ihr verbundene Thrombose-Risiko einschätzen kann, ist nicht der erste Fall dieser Art.

Alle Kombipillen erhöhen das Thrombose-Risiko, also die Bildung von Blutgerinnseln, das ist bekannt. Wer bereits aus anderen Gründen ein erhöhtes Thromboserisiko hat, sollte sich die Einnahme dieser Pillen gut überlegen. Zu den Risikofaktoren zählen unter anderem Rauchen, ein Alter über 35, Bluthochdruck und starkes Übergewicht. Hat eine Frau mehr als zwei solcher Risikofaktoren, sollte sie keine Kombipille nehmen.

Aber nicht alle Kombipillen erhöhen das Thrombose-Risiko gleich stark. Einige der neueren Pillen (die der sogenannten 3. und 4. Generation) bringen ein höheres Risiko für Blutgerinnsel mit sich als ältere Präparate (die der 2. Generation). Es wird deshalb empfohlen, erst einmal eine der sichersten Pillen zu probieren und nur auf die neueren Produkte auszuweichen, wenn jemand die älteren schlecht verträgt.

  • Betrachtet man Frauen, die nicht schwanger sind und nicht hormonell verhüten, entwickeln pro Jahr zwei von 10.000 eine venöse Thromboembolie, kurz VTE.

  • Verhüten Frauen mit einer Kombi-Pille, die entweder Levonorgestrel, Norgestimat oder Norethisteron enthalten, entwickeln pro Jahr fünf bis sieben von 10.000 eine VTE.

  • Nehmen Frauen eine Kombi-Pille mit Gestoden, Desogestrel oder Drospirenon, entwickeln pro Jahr neun bis zwölf von 10.000 eine VTE.

  • Nehmen Frauen eine Kombi-Pille mit Etonogestrel oder Norelgestromin, entwickeln pro Jahr sechs bis zwölf von 10.000 eine VTE.

  • Bei der Einnahme von Kombi-Präparaten mit Dienogest und Ethinylestradiol entwickeln pro Jahr acht bis elf von 10.000 Frauen eine VTE.

Etwa ein bis zwei Prozent der Thrombosen, die im Zusammenhang mit der Pille auftreten, sind tödlich, so steht es unter anderem im Beipackzettel des neuen Präparats.

Zwar ist das Risiko, aufgrund der Pille eine Thrombose zu erleiden, für die Einzelne gering. Welchen Unterschied es aber macht, wenn Pillen mit höherem Thrombose-Risiko seltener verordnet werden, zeigte sich vor einigen Jahren in Frankreich. Dort fielen die neuen Pillen aus der Erstattung der Krankenkassen, ihr Absatz brach drastisch ein. Die Zahl der Frauen im Alter von 15 bis 49, die wegen einer Lungenembolie im Krankenhaus behandelt werden mussten, war dann im Jahr 2013 knapp elf Prozent niedriger als in den Vorjahren, demnach mussten etwa 320 Frauen weniger in jenem Jahr deswegen in eine Klinik, heißt es in einer Studie. Bei gleichaltrigen Männern und älteren Frauen änderte sich die Rate der Lungenembolien nicht, der Effekt hing also offenbar mit der Pille zusammen.

Entscheidend für die Zulassung von Drovelis in der EU war eine Studie mit 1533 Teilnehmerinnen, die das Präparat für 13 Zyklen einnehmen sollten. 1218 von ihnen schlossen die Studie ab. In einer weiteren Studie in Nordamerika mit 1864 Teilnehmerinnen schlossen 1016 die Studie ab. Laut der Ema gab es einen Fall einer tiefen Beinvenenthrombose sowie eine sogenannte Thrombophlebitis, also eine Thrombose in oberflächlichen Venen.

In beiden Studien wurde das neue Präparat nicht mit einem älteren verglichen, sondern nur das neue Mittel eingenommen. Ein Placebo als Vergleich schließt sich bei Verhütungspillen logischerweise aus, eine bereits etablierte Pille in einer Kontrollgruppe wäre aber möglich gewesen.

Ingrid Mühlhauser ist Vorsitzende des Arbeitskreises Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft. Der forderte vor Kurzem »endlich wirksame Maßnahmen«, damit Frauen nicht mehr so häufig die neueren Pillen der sogenannten 3. und 4. Generation verschrieben werden. Falls diese nicht greifen, »sollte die Zulassung dieser Präparate eingeschränkt werden«. Der Arbeitskreis betont, Frauen hätten ein Recht auf »möglichst sichere und dabei verlässliche Verhütungsmittel«.

Mühlhauser sagt auf Anfrage des SPIEGEL, sie sei entsetzt, dass »ein neues Medikament in diesem Bereich ohne Vergleichsstudien mit den sichersten Pillen, die schon am Markt sind, zugelassen wird«. »Für die Ema reicht es offensichtlich, dass man belegt, dass eine Pille empfängnisverhütend wirkt und kein augenscheinlicher Hinweis auf schwere Nebenwirkungen vorliegt.« Anhand der Zahl der Studienteilnehmerinnen könne man über das Thromboserisiko noch nichts sagen. »Ich frage mich, ob den Frauen später in Praxen gesagt wird, dass sie ein Medikament bekommen, über das man erst so wenig weiß«, sagt die Gesundheitswissenschaftlerin und Ärztin.

Ergebnisse: im Juni 2027

Mühlhauser ist dafür, die Hersteller zu verpflichten, Vergleichsstudien mit anderen Pillen vor der Zulassung durchzuführen. Weil das nicht vorgeschrieben ist, wird es jetzt erst nach der Zulassung allmählich ermittelt. In den USA, wo die Wirkstoffkombination auch kürzlich zugelassen wurde, fordert die zuständige Behörde FDA eine Studie über die Thrombosehäufigkeit vom Hersteller, deren Ergebnisse bis Juni 2027 vorliegen sollen.

Die Erfahrungen mit den Coronaimpfstoffen von AstraZeneca und Johnson & Johnson haben in den vergangenen Monaten verdeutlicht: Extrem seltene Nebenwirkungen kann man zum Teil erst nach der Zulassung entdecken. Allerdings handelt es sich bei Thrombosen aufgrund der Pille um keine unbekannten Nebenwirkungen. Und im Gegensatz zu den Coronaimpfstoffen, die sofort dringend benötigt wurden, gibt es bei der Pille durchaus Alternativen zu einem neuen Produkt – nämlich die vielen Präparate, die bereits auf dem Markt sind.

Symptome, bei denen umgehend ein Arzt aufgesucht werden sollte:

Starke Schmerzen oder Schwellungen eines Beins, die begleitet sein können von Druckschmerz, Erwärmung oder Änderung der Hautfarbe des Beins, zum Beispiel aufkommende Blässe, Rot- oder Blaufärbung.

Plötzliche unerklärliche Atemlosigkeit/Atemnot oder schnelle Atmung; starke Schmerzen in der Brust, die bei tiefem Einatmen zunehmen können; plötzlicher Husten ohne offensichtliche Ursache, bei dem Blut ausgehustet werden kann.

Brustschmerz (meist plötzlich auftretend), aber manchmal auch nur Unwohlsein, Druck, Schweregefühl, vom Oberkörper in den Rücken, Kiefer, Hals und Arm ausstrahlende Beschwerden, zusammen mit einem Völlegefühl, Verdauungsstörungen oder Erstickungsgefühl, Schwitzen, Übelkeit, Erbrechen oder Schwindelgefühl.

Schwäche oder Taubheitsgefühl des Gesichts, Arms oder Beins, die auf einer Körperseite besonders ausgeprägt ist; Sprach- oder Verständnisschwierigkeiten; plötzliche Verwirrtheit; plötzliche Sehstörungen oder Sehverlust; schwerere oder länger anhaltende Kopfschmerzen/Migräne.

Diese Information für Anwenderinnen ist auf der Seite des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte zu finden. »Insbesondere bei der Erstverschreibung sollte die Checkliste verwendet, sowie die Patientinnenkarte den Anwenderinnen ausgehändigt werden«, schreibt das Bfarm.

Wird die neue Pille nun besonders sorgfältig bewertet? Verschiedene Stellen, die sich in Deutschland mit neuen Medikamenten nach deren Zulassung auseinandersetzen, sind alle nicht zuständig: »Verhütungsmittel unterliegen nicht der frühen Nutzenbewertung und werden (und wurden) daher nicht vom IQWiG bewertet«, schreibt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen auf Anfrage. »Unter die Nutzenbewertung fallen alle neuen Arzneimittel zur Krankenbehandlung. Bei den Verhütungsmitteln sind wir systematisch im Bereich der Prävention. Daher greift hier die Nutzenbewertung regelhaft nicht«, schreibt der Gemeinsame Bundesausschuss G-BA.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) verweist auf die EU-Behörde Ema, die sich zentral kümmere.

Bei der Ema ist zu lesen, dass in einer internationalen Studie die Sicherheit der Kombination von Estetrol und Drospirenon im Vergleich zu anderen Kombipillen erforscht werden soll. Wichtigster Punkt dabei: venöse Thromboembolien, insbesondere tiefe Beinvenenthrombosen und Lungenembolien.

Eine SPIEGEL-Anfrage zu weiteren Details der Studie hat die Ema bisher nicht beantwortet.

Bei der Präsentation des Herstellers gibt man sich indes optimistisch, dass das Thromboserisiko von Drovelis gering sein wird. Darauf weisen demnach in Studien gemessene Surrogatparameter hin – in diesem Fall bestimmte Blutwerte, die man mit dem Thromboserisiko in Verbindung bringt. Was wirklich passiert, werde aber das wirkliche Leben zeigen. Es wäre aber ein »Wunder«, wenn diese Pille nicht ein niedriges Risiko hätte.

Vielleicht behalten die Optimisten recht, und diese Pille ist tatsächlich besonders sicher und zugleich besonders verträglich. Vielleicht aber auch nicht. Wissen werden wir das erst in ein paar Jahren, weil der Hersteller es nicht vor der Zulassung herausfinden muss.

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