Schlange für Coronatests in Manhattan (im Dezember 2021): Neuer Brennpunkt der Pandemie
Wanda, die Sprechstundenhilfe, ist freundlich, aber bestimmt. »Sir«, sagt sie am Telefon, woraufhin ich mich sofort zehn Jahre älter fühle, als ich es sowieso bin, »wir müssen Ihren Termin morgen stornieren.«
Stornieren? Weshalb?
»Sie sind nicht versichert.«
Unsinn, natürlich bin ich versichert.
»Nein, Sir.« Schon wieder diese Anrede. »Sind Sie nicht. Sorry.«
Das fängt ja gut an, das neue Jahr. Mit einem Routine-Check-up beim Hausarzt, der auf einmal alles andere ist als Routine. Verwirrt versuche ich, Wanda vom Gegenteil zu überzeugen. Ich habe, beteuere ich, meine seit Jahren unveränderte US-Krankenversicherung gerade erst für 2022 verlängert. Der Versicherungskonzern hat meine Januar-Prämie auch längst abgebucht und mir eine neue Mitgliedskarte geschickt, mit meinem Namen und meiner bekannten Versicherungsnummer.
Wanda ist ungerührt. »Die Versicherung verzeichnet Sie als ›erloschen‹.«
Willkommen im US-Gesundheitswesen. Das ist seit jeher eine Farce, doch erst recht jetzt, wenn man sich hier ab einem bestimmten Alter öfters als früher grunduntersuchen lässt. Keine Versicherung, kein Check-up, keine Midlife-Sonderbehandlung. Ganz zu schweigen davon, wenn man von der Leiter fällt oder auf dem Glatteis ausrutscht.
Fast alle Freunde haben Covid
Das wäre lästig genug. Doch nun schwappt auch noch die Omikron-Welle durch New York City – meine Wahlheimat und der neue, alte Brennpunkt der Pandemie. Rund 33.000 Menschen infizieren sich hier jeden Tag neu. Darunter fast mein gesamter Freundes- und Bekanntenkreis. Alle sind, wie ich, geimpft und geboostert, alle haben bisher milde Symptome. Trotzdem möchte ich mir das wirklich nicht auch noch einfangen – zumal nicht mit einer »erloschenen« Versicherung. Das ist, als würde man ohne Rettungsring in einen Tsunami springen.
US-Krankenhäuser müssen zwar jeden Notfall aufnehmen, eine in New York besonders populäre Regel, bei all den Schießereien. Doch ebenso verlässlich kommt dann auch die Rechnung. (Mein letzter Bluttest, ganz ohne Schießerei, kam auf 1700,13 Dollar, gezahlt von der Kasse.) Und im Moment würde man in den hoffnungslos überfüllten Kliniken ohnehin schnell in einem Bett auf dem Gang vergessen. Selbst Krebspatienten müssen zurzeit warten, »stille Triage« ist auch hier ein Thema, und Unversicherte sind die Allerletzten in der Schlange.
In der Jugend erlebt man vieles zum ersten Mal: den ersten Kuss, die erste Reise ohne Eltern. Wenn man die Marke 50 streift, geschieht auch viel Neues: die ersten Hitzewallungen, das erste künstliche Gelenk. Und einiges sieht man plötzlich anders. Warum früher trotzdem nicht alles besser war, davon erzählen an dieser Stelle unsere vier Kolumnistinnen und Kolumnisten im Wechsel. Alle Kolumnen finden Sie hier.
Um genau solche Horrorszenarien zu vermeiden, hatte ich mir extra Mühe gegeben und meine Krankenversicherung im Dezember für 2022 erneuert, wie es sich gehört. Von Deutschland aus, wo ich zu der Zeit gerade im Urlaub war, loggte ich mich direkt in die Website meiner US-Versicherung ein, verlängerte meine Deckung unverändert fürs kommende Jahr und zahlte sicherheitshalber schon meinen ersten Monatsbeitrag 2022, ich bekam auch eine Quittung.
Das erkläre ich Wanda auch, ohne Erfolg. Sie verweist mich für alle weiteren Fragen an die Versicherungsgesellschaft und cancelt meinen Termin. »Happy New Year.«
Bei der Versicherung geht erst mal keiner ran. Avisierte Wartezeit: 47 Minuten. Die Aufzugmusik lässt sie noch länger erscheinen. Schließlich nimmt jemand ab: Mein »Advokat«, wie die Krankenkasse ihre Kundenberater nennt, heißt Michael. Im Hintergrund kräht ein Hahn. Erst denke ich, der kräht bei mir irgendwo, aber in dieser Ecke von Brooklyn gibt es keine Hähne. Ja, bestätigt Michael, er sitze im Homeoffice. Auf einer Farm? Doch zurück zu Ihrem Problem, »Mr. Pitzkie«. Kein Problem, sagt Michael, nachdem ich mein Leid geklagt habe, und stellt mich in die Warteschleife, während er recherchiert.
Michael tippt, der Hahn kräht
Weitere 45 Minuten Aufzugmusik. Ab und zu wird ein automatischer Säuselaufruf eingeblendet: Ich möge mich doch zu einem Routine-Check-up bei meinem Hausarzt anmelden. »Sicher ist sicher.«
Michael kommt zurück. Er hat eruiert, dass die Versicherung, für die er arbeitet, meinen Januar-Beitrag (1382,80 Dollar) »versehentlich« auf mein altes 2021-Konto gebucht hat. Wo das Geld nichts bewirkt außer einer persönlichen Spende an diesen Megakonzern, der mehr als 800 Millionen Dollar Jahresumsatz macht. Mein Konto für 2022, bedauert Michael, bleibe einstweilen »ungültig«.
Lässt sich die verirrte Prämie nicht einfach umbuchen? Michael tippt, der Hahn kräht, ich warte. »Das dauert 24 bis 72 Stunden.«
Immerhin weiß ich jetzt Bescheid. Wenn ich nicht zufällig am nächsten Tag einen Arzttermin gehabt hätte (den ich jetzt nicht mehr habe), wäre ich weiter unversichert und blind in die Omikron-Welle gesegelt.
Meine Versicherung heißt übrigens Emblem Health. Deren langjährige Vorstandschefin Karen Ignagni verdient mehr als drei Millionen Dollar im Jahr. Zuvor war sie Lobbyistin, und zwar nicht irgendeine, sondern »die einflussreichste Lobbyistin der Gesundheitsindustrie«. Als solche kämpfte sie auch gegen die für die Pharmabranche misslichsten Elemente von Obamacare, der US-Gesundheitsreform von 2010.
Präsident Joe Biden hat die Reform vor einem Jahr, als eine seiner ersten Amtshandlungen, per Dekret noch mal weiter verstärkt. Trotzdem merken manche Versicherte kaum noch einen Unterschied zwischen vorher und nachher. Auf jeden Fall keinen finanziellen Unterschied: Meine Prämie ist höher denn je, doch die Leistungen schrumpfen immer mehr. Kapitalismus pur.
Sofern die Prämie überhaupt am richtigen Ort ankommt.
Mein Blutdruck steigt
Ich soll in drei Tagen wieder anrufen, sagt Michael, der Advokat. Er klingt hoffnungsvoll und diktiert mir eine neue Mitgliedsnummer und ein achtstelliges Aktenzeichen, damit ich dann nicht alles noch mal von vorn erklären muss. Zum Abschied kräht der Hahn.
Drei Tage später. Anruf bei Wanda: Meine Versicherung ist immer noch »erloschen«. Anruf bei der Versicherung: Diesmal dudelt fröhliche Countrymusik, bevor jemand namens Gilbert abnimmt. Keine Sorge, sagt Gilbert, meine Prämie sei »unterwegs« von einem Konto aufs andere. »24 bis 72 Stunden.« Gilbert entschuldigt sich für das Drama, zumindest hört sich das, was er von seinem Spickzettel abliest, so an. Er gibt mir ein neues achtstelliges Aktenzeichen. Mein Blutdruck steigt, wenn das so weitergeht, muss ich zum Arzt.
Der nächste offene Termin, sagt Wanda, wäre Ende Februar.
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