Silvana Koch

SPIEGEL: Frau Koch-Mehrin, im vergangenen Herbst bekamen Sie die Diagnose Brustkrebs. Wie geht es Ihnen heute?

Koch-Mehrin: Mir geht es gut, danke. Ich fühle mich gesund. Die Prognosen sind auch gut, dass es so bleibt.

SPIEGEL: Was ist geblieben, körperlich und seelisch?

Silvana Koch-Mehrin, Jahrgang 1970, war für die FDP von 2004 bis 2014 Abgeordnete im Europäischen Parlament, dessen Vizepräsidentin (2009-2011) und Mitglied im FDP-Präsidium von 2004 bis 2011. Im Zusammenhang mit dem Plagiatsskandal um ihre Dissertation trat sie von allen Ämtern zurück, blieb aber zunächst Europa-Abgeordnete. 2013 gründete sie die Stiftung „Women Political Leaders“ mit Sitz in Island, dem Land mit der weltweit am weitesten fortgeschrittenen Gleichberechtigung. Jedes Jahr findet dort das „Reykjavik Global Forum“ statt, das sich als „Davos der Frauen“ versteht. Koch-Mehrin lebt in Brüssel und hat drei Töchter im Alter von 17, 15 und 12 Jahren.

Koch-Mehrin: Es hat sich so viel verändert, da ist „geblieben“ das falsche Wort. Krebsdiagnose, Brustamputation, Chemo- und Strahlentherapie, das ist eine existenzielle Erfahrung. Es ist wenig so wie vorher, sowohl körperlich als auch seelisch. Aber es ist nicht schlechter. Es ist anders.

SPIEGEL: Können Sie ein Beispiel nennen?

Koch-Mehrin: Die Chemo-Nebenwirkungen lassen bei mir unter anderem die Nase tropfen und bluten, die Augen tränen und ich muss mich ständig räuspern. Kleine Dinge aufzuheben oder zu halten ist schwer, das Gefühl in den Fingerspitzen nimmt ab. Haare, Augenbrauen und Wimpern fallen aus. „Vorher“ war es selbstverständlich, das alles zu können und zu haben. Jetzt ist es ein Geschenk.

SPIEGEL: Wie fühlte sich der Moment an, als Sie die Diagnose bekamen?

Koch-Mehrin: Ich kann mich präzise an jedes Detail erinnern, die Vase auf dem Tisch, Bilder und Bücher im Regal. Ich war beruflich in den USA und saß im Büro einer Freundin, als mein Arzt mir telefonisch mitteilte: Krebs. Es war ein Schock, da ich mich kerngesund fühlte. Nur die jährliche Routineuntersuchung, hatte ich gedacht. Allein diesen Satz auszusprechen: „Ich habe Krebs“, das klang für mich wie: „Ich sterbe jetzt“. Dennoch habe ich nach dem Telefonat all meine weiteren Termine absolviert, ich habe funktioniert wie ein Automat, wahrscheinlich ein Selbstschutzmechanismus. Der Optimismus der Ärzte hat mir sehr geholfen, aus der Schockstarre herauszufinden. Übrigens kann ich alle Frauen, auch unter 50, nur bitten, regelmäßig zum Screening zu gehen. Es macht einen riesigen Unterschied, in welchem Stadium der Krebs entdeckt wird.

SPIEGEL: Ist der Brustkrebs tabuisierter als andere Krebsarten?

Koch-Mehrin: Wenn Menschen von jemandem erfahren, dass sie oder er Krebs hat, verstummen sie oft. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen. Woher auch? „Wird schon wieder“ klingt eher verzweifelt und hilft einem Kranken nicht. Wir leben in einer Verdrängungsgesellschaft: Krankheit und Tod klammern wir immer noch zu häufig aus. Weil das so ist, verschweigen viele Frauen, dass sie Brustkrebs haben. Zum einen, weil sie selbst aus der Bahn geworfen worden sind, aber eben auch, weil sie den anderen ersparen wollen, über etwas zu sprechen, worüber sie einfach nicht sprechen können.

SPIEGEL: Sie galten als liberale Superfrau, bei der Karriere, Familie, Frisur immer perfekt aussahen. Sie haben sich auch ganz gern so inszeniert. Was hat der Brustkrebs mit Ihrem Gefühl von Weiblichkeit gemacht?

Koch-Mehrin: Höre ich da eine Männerwahrnehmung? Auf dem Kopf lange Haare und an den Beinen keine? Nur mit Brüsten eine Frau? Das ist doch Unsinn. Schauen Sie sich die Fotos der selbstbewussten Frauen an bei #goingflat oder #onebreastpride. Das ist eine Weiblichkeit, die mit Konventionen nichts mehr zu tun hat. Das bewundere ich.

SPIEGEL: Sie haben neun Jahre lang keine Interviews gegeben. Machen Sie jetzt den Friedrich Merz und kehren zurück in die Politik?

Koch-Mehrin: Falls ich zurück in die Politik wollte, dann garantiert nicht mit einem Interview. Mir geht es um etwas völlig anderes. Ich habe mich zu diesem Interview entschlossen, um gegen die Sprachlosigkeit beim Thema Krebs anzugehen, um für Offenheit beim Umgang mit schweren Krankheiten zu werben.  

SPIEGEL: Was hat Ihnen während der harten Phase besonders geholfen?

Koch-Mehrin: Ich war überwältigt von der Hilfsbereitschaft, der Wärme und Anteilnahme, die mir begegnet ist, von Familie und Freunden, aber auch von Menschen, die ich kaum kenne. Mein Mann und mein Bruder haben sich aus Solidarität die Haare abrasiert. Gerade in Momenten der Verzagtheit hat mich ermutigt, wenn ich von anderen Frauen gehört habe, wie offen sie mit ihrer Krankheit umgehen.

SPIEGEL: Wie groß ist die Angst vor einem Rückfall?

Koch-Mehrin: Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an den Krebs denke. Die statistische Unwahrscheinlichkeit eines Rückfalls ist zwar beruhigend, aber jeder Kontrolltermin bedeutet wieder eine emotionale Achterbahn.

SPIEGEL: Wie haben Sie es Ihren Töchtern erklärt?

Koch-Mehrin: Ich war offen und klar mit ihnen, denn ich wollte, dass sie mir weiterhin vertrauen.



SPIEGEL: Was waren die brutalsten Momente?

Koch-Mehrin: Die erste und die letzte Gabe in der Chemotherapie haben mich an meine Grenzen gebracht. Bei der Ersten hatte ich so riesige Angst vor den Nebenwirkungen, dass ich fast durchgedreht bin. Vor der letzten Gabe war meine mentale Kraft fast aufgebraucht, ich wollte nicht mehr. Da durchzukommen, das ging nur, weil ich für meine Kinder stark sein wollte.

SPIEGEL: Was haben Sie unterschätzt?

Koch-Mehrin: Dass es ein Marathon ist. Es ist eine so lange Zeit der Behandlung, fast neun Monate waren es bei mir, und es ist anstrengend. Und danach ist es ja nicht vorbei. Kleines Beispiel: Die Fingernägel brauchen Monate, um normal nachzuwachsen. Die kommenden zehn Jahre erwarten mich immer wieder Kontrollen. Und manche Nachwirkungen sind bleibend.

SPIEGEL: Was haben Sie für sich gelernt?

Koch-Mehrin: Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Angst richtig kennengelernt. Und ich habe lernen müssen, damit umzugehen. Das sagt sich so leicht, ist es aber nicht.

SPIEGEL: Sie haben, ob Sie wollten oder nicht, früher das Stereotyp der klassischen Blondine bedient. Was haben Glatze und Perücke mit Ihnen gemacht?

Koch-Mehrin: Ach, was habe ich diese Art von Fragen vermisst…

SPIEGEL: … das Vergnügen ist ganz meinerseits.

Koch-Mehrin: Klischees zu bedienen, gehört hier offenbar immer noch zum journalistischen Standard-Repertoire. Die Virologin Sandra Ciesek ist „Quotenfrau“ neben Christian Drosten, schon klar. Im Reykjavik Index, der misst, wie stark Stereotype Meinungen beeinflussen, schneidet Deutschland ziemlich schlecht ab. Solche Fragen, die unbewusste Voreingenommenheit verstärken, tragen dazu bei.

SPIEGEL: Nun ist aber gut. Sie haben das Blondinen-Spiel schon sehr gut beherrscht. Sie wussten genau, dass sich in einer Männerpartei viel Aufmerksamkeit auf Sie richtet, dass sie als Mann nicht so fix an die Spitze der FDP marschiert wären. Genau deswegen haben die Neider Sie doch 2011 alleingelassen und vergnügt fallen sehen, als mal Loyalität gefragt war. Hat die Krankheit manche Ihrer politischen Positionen verändert?

Koch-Mehrin: Jeder sollte Zugang zu erstklassiger Gesundheitsversorgung haben, unabhängig vom Geldbeutel. Im Zusammenhang mit Covid-19 ist uns allen bewusst geworden, wie zerbrechlich wir sind.

SPIEGEL: Sie klingen wie Karl Lauterbach.

Koch-Mehrin: Lesen Sie mal nach, was Daniel Bahr damals als Gesundheitsminister vorgeschlagen hat: eine freiheitliche gesetzliche Krankenversicherung. Die ist schlau und finanzierbar und stellt den Patienten in den Mittelpunkt.

SPIEGEL: Vermissen sie die FDP?

Koch-Mehrin: Einige Parteifreunde sind tatsächlich Freunde, mit denen bin ich in Kontakt geblieben, aber die meisten sind längst raus aus der aktiven Politik. Nach wie vor bin ich der Überzeugung, dass Deutschland eine starke liberale Partei guttun würde. Ich bin aber nicht mehr parteipolitisch engagiert. Heute arbeite ich mit und für Politikerinnen, weltweit und strikt überparteilich. Ich leite die Stiftung Women Political Leaders, deren Zielsetzung es ist, sowohl die Anzahl als auch den Einfluss von Politikerinnen zu vergrößern.

SPIEGEL: Sehr diplomatisch: Würden Sie die FDP bei der kommenden Bundestagswahl wählen?

Koch-Mehrin: Eine liberale Partei bekommt immer meine Stimme.

SPIEGEL: Viele Krebskranke suchen nach Erklärungen, ob Stress oder Strafe oder ungesunde Lebensweise: Welche Story haben Sie sich zurechtgelegt?

Koch-Mehrin: Es ist quasi unmöglich, nicht nach Gründen zu suchen. Es gibt riesige Fortschritte bei der Behandlung und Heilung von Brustkrebs, aber beim „Warum“ tappt man im Dunklen. Die Pille ist zwar ein Segen, weil sie Frauen ermöglicht, selbstbestimmt zu sein. Aber es macht nicht nur mich wütend, dass auch 50 Jahre nach ihrer Einführung immer noch auf Hormone gesetzt wird bei der Verhütung, obwohl die Korrelation zu Brustkrebs eindeutig und nachgewiesen ist. Frauengesundheit muss stärker im Fokus stehen.


SPIEGEL: Die von Ihnen gegründete Stiftung „Women Political Leaders“ veranstaltet jedes Jahr das Reykjavik Global Forum. Da zeichnen Sie Initiativen aus, die für Frauen relevant sind. In diesem Jahr geht der Preis an das Pink Ribbon, Symbol für den Kampf gegen den Brustkrebs. Warum?

Koch-Mehrin: Die rosa Schleife, „Pink Ribbon“, vor genau 30 Jahren erfunden, steht heute weltweit als Symbol gegen Brustkrebs. Weil sich Frauen – und inzwischen auch Männer – auf der ganzen Welt dafür zusammengetan haben, ist es eine so große Erfolgsgeschichte. Viele Frauen überleben heute Brustkrebs, weil es gelungen ist, die Krankheit aus der Tabu-Ecke zu holen, Spenden zu sammeln, Forschung zu finanzieren, Behandlungen zu verbessern. Das zeichnen wir aus, die Preisträgerinnen sind die Amerikanerin Nancy Brinker, die als Erste in den Neunzigerjahren das Pink Ribbon verwendet hat, und die Isländerin Vigdis Finnbogadottir, Brustkrebsüberlebende und -aktivistin und das weltweit erste weibliche Staatsoberhaupt.

SPIEGEL: Die Berliner Musik-Journalistin Anja Caspary geht radikal offen mit ihrer doppelten Amputation um, sie zeigt sich öffentlich in engen Tops, was bei manchen Zeitgenossen zu großer Verwirrung führt. Was halten Sie von derlei Konfrontationsstrategien?

Koch-Mehrin: Ich finde das großartig. Und warum sollte das als Konfrontation abgewertet werden? Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Es muss eine informierte und individuelle Entscheidung sein können, sich für oder gegen Implantate zu entscheiden, mit all den damit verbundenen Nebenwirkungen. Das Wichtigste ist, dass die betroffene Frau sich mit ihrer Entscheidung wohlfühlt. Und nicht, wie andere sich fühlen.

SPIEGEL: Haben Sie während dieser Phase wirklich nie über Ihre Wirkung auf Männer nachgedacht?

Koch-Mehrin: Es sollte immer und vor allem um die Frau selbst gehen und was sie will. Im Diagnose-Telefonat habe ich von meinem damaligen Frauenarzt ungefragt erklärt bekommen: „Nach einer Rekonstruktion können Sie sich wieder als Frau fühlen.“ Ihn habe ich nicht mehr aufgesucht. OP, Behandlung und Nachsorge machen Ärzte, die meine Prioritäten respektieren. Wie ich mich als Frau sehe, möchte ich selbst entscheiden.

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