Pest und Cholera, Syphilis und Aids, Lepra und Typhus: Seuchen sind ein ständiger Begleiter der Menschheit. Zwei Düsseldorfer Medizinhistoriker, Heiner Fangerau und Alfons Labisch, sind der Frage nachgegangen, wie uns frühere Epidemien in der Corona-Pandemie helfen können. „Pest und Corona“ heißt ihr Buch, das am 2. Juni erscheint.
Pest und Cholera rafften Millionen dahin, und noch Ende der 1950er Jahre wurden 30.000 Grippetote in Deutschland den Autoren zufolge einfach so hingenommen. "Es wurde nicht viel Aufhebens gemacht und eher der Umstand skandalisiert, dass Arbeitnehmer krankgeschrieben waren und damit die Wirtschaftsleistung gefährdeten." 2020 hingegen wird nicht nur Deutschland nahezu komplett lahmgelegt.
"Nichts ist unerwartet oder neu"
Was hat sich in der Zwischenzeit verändert? Wir haben eine andere Einstellung Krankheiten gegenüber, glauben Fangerau und Labisch: "Heute ist die Gesellschaft entschlossen, vorzeitige Tode nicht mehr hinzunehmen und so viele Menschen wie möglich zu retten." Es sei Konsens, "dass jedes Leben, ob jung oder alt, gesund oder krank, gerettet werden soll – koste es was es wolle."
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Spätestens seit der Industrialisierung hat die Politik versucht, Epidemien zu beeinflussen. Generell könne man "vertikal" und "horizontal" eingreifen, führen die Autoren aus: Einmal bekämpft man den Erreger beim Patienten, einmal seine Ausbreitung in der Bevölkerung. "Nichts von dem, was wir derzeit in der Corona-Pandemie an Maßnahmen der öffentlichen Gesundheit erleben, ist also unerwartet oder neu." Kontaktbeschränkungen etwa wurden schon bei der Spanischen Grippe in den USA erprobt – und als hilfreich erkannt.
Globaler Handel, weltweites Reisen und Massenveranstaltungen haben die Ausbreitung begünstigt
Sogar die psychologischen Reaktionen ähneln sich: "Bei nahezu jeder Pandemie vorher gab es Phänomene der Ausgrenzung, Stigmatisierung und der Verdächtigung und Denunziation", führen die Autoren aus. Kranke wurden isoliert, um die Bevölkerung zu schützen. Immerhin sind die Methoden heute weniger rabiat als im Mittelalter, wo die Opfer in Pesthöfen ihrem Schicksal überlassen wurden.
Die (Über)lebensbedingungen der Erreger und die Lebensbedingungen der Menschen bedingen einander. Schlechte Hygiene, verschmutztes Trinkwasser oder eine durch Krieg geschwächte Bevölkerung bildeten den Nährboden früherer Pandemien. Globaler Handel, weltweites Reisen und Massenveranstaltungen haben die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus begünstigt. "Seuchen und ihre Verbreitung sind in ein soziales und kulturelles Umfeld eingebunden und können nur in dieser breiten Sicht verstanden werden."
Es braucht eine effektive Eindämmungsstrategie
Welche Schlüsse ziehen die Historiker nun aus früheren Seuchen für den Umgang mit der aktuellen und mit künftigen Epidemien? In einer Art Fazit am Ende des Buchs fordern sie: Frühzeitig eingreifen, um neue Erreger schon am Ort ihres Entstehens einzugrenzen, dafür müsse die Weltgesundheitsorganisation WHO gestärkt werden. Die Flughäfen spielen eine Schlüsselrolle, um die Ausbreitung zu verhindern, dort müsse eine effektive Eindämmungsstrategie aufgebaut werden. Regionales Vorgehen habe sich mehr bewährt als zentraler Durchgriff. Und Vorbeugen kostet weniger als hinterher die Schäden zu finanzieren.
Leider, so die bittere Erkenntnis, sind wir nicht besonders lernfähig. "Es ist mehr als verwunderlich, dass nach jeder Pandemie in den verschiedensten Gremien gründliche Analysen durchgeführt und vorausgreifend Szenarien entworfen werden – und danach nichts bis wenig geschieht, um die nächste Pandemie im Vorhinein zu verhindern oder zu stoppen", schreiben die Autoren.
Autoren kritisieren Bundesregierung: "Es wurde nichts unternommen"
"Wir haben jetzt die dritte Coronawelle seit dem Jahrtausendbeginn – und zwar fast im Rhythmus von zehn Jahren", sagte Labisch der "Rheinischen Post". "Die nächste Epidemie kommt bestimmt und wir müssen endlich ernst machen und uns rechtzeitig vorbereiten." Es bringe nichts, Evaluationen zu machen, ohne dann Konsequenzen zu ziehen. "Der Bundestag hatte das Thema Sars-Epidemie 2012 auf der Tagesordnung, es wurde aber nichts unternommen", klagt Labisch. "Das kommt uns heute teuer zu stehen."
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Im 19. Jahrhundert habe man die Seuchen in den Griff bekommen, welche im Zuge von Industrialisierung und Imperialismus verbreitet worden seien. Es sei wichtig herauszufinden, was man damals unternommen hat, um Cholera, Pest und Gelbfieber in den Griff zu bekommen. Dabei wisse man noch gar nicht gesichert, was die Quelle des Coronavirus ist. "Es könnten Fledermäuse – wohl das größte Virenreservoir überhaupt – sein", vermutet Labisch. Allerdings seien die keine Überträger. "Als Zwischenwirt werden Gürteltiere oder – wahrscheinlicher – Marderhunde genannt, die es in China auf großen Lebendtiermärkten zu kaufen gibt."
Eingeleitete Maßnahmen sind besser als "prophylaktische Aktion"
Natürlich kommen Fangerau und Labisch in ihrem Buch nicht um die Frage herum, ob angesichts historischer Pandemien unsere Reaktion auf Covid-19 übertrieben ist. Handelt es sich also um eine "skandalisierte Krankheit"? "Ja und nein", lautet die Antwort. Im Vergleich zu "echten Killern" mögen die Opferzahlen noch gering sein. Die eingeleiteten Maßnahmen seien dennoch sinnvoll als "prophylaktische Aktion gegen einen potenziell echten Killer".
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