Vor fünf Jahren beschlossen sie und ihr Mann, damals 71, ihre Zelte in Deutschland abzubrechen und nach Estland auszuwandern: Weil sie sich mit ihrer mageren Rente das Leben in Deutschland nicht leisten konnten. Was ursprünglich aus der Not geboren war, erwies sich als Glück.
Anfang 2015 stand Brigitte Kaiser vor der Frage, ob sie ihre Praxisräume verlängern oder aufhören sollte. Seit 1997 hatte sie als Heilpraktikerin gearbeitet. Jetzt wurde der 70-Jährigen aus Niedersachsen bewusst, dass sie es sich eigentlich gar nicht leisten kann aufzuhören. Denn die Rente und ihre mageren Ersparnisse reichten nicht, um davon in Deutschland leben zu können. In die Rentenversicherung hatte sie nur ein paar Pflichtjahre lang eingezahlt. Danach standen Aus- und Fortbildungen an, die das Geld auffraßen. „Der Gedanke ans Rentenalter war weit weg, ich hatte andere Prioritäten“, erzählt sie. Ihrem Mann, damals 71 und ebenfalls Heilpraktiker mit eigener Praxis, ging es ähnlich.
„Uns blieb nur auszuwandern“
Was tun? Eine Option wäre Sozialhilfe gewesen. Doch das kam für beide nicht in Frage: „Sozialamt war für uns eine Horrorvorstellung.“ Zudem empfindet es Brigitte Kaiser als unfair, nichts beizutragen und am Ende die Solidargemeinschaft in Anspruch zu nehmen. „Uns blieb nur auszuwandern“, resümiert sie.
Dann ging alles Schlag auf Schlag: Ihr Mann suchte im Internet nach Ländern, in denen das Bruttoeinkommen der Bevölkerung so niedrig ist, dass Rente und Erspartes zum Leben reichten. Besonders neugierig machte sie Estland: Es gab historische Verbindungen zu Deutschland und es gehört zur EU. „Das war wichtig, damit wir die Renten ohne Auslandsabzüge bekommen“, erklärt Brigitte Kaiser.
„Wir fingen Feuer“
Ihr Mann sammelte immer weiter Informationen, unter anderem setzte er sich mit einem deutschen Pfarrer in der Hauptstadt Tallinn in Verbindung, der wiederum den Kontakt zu einer Deutschen vermittelte, die schon lange in Estland lebte.“Wir fingen Feuer und beschlossen, 14 Tage Urlaub in Estland zu machen, um das Land auf uns wirken zu lassen. Wir waren sofort begeistert“, erinnert sich Brigitte Kaiser. Das war Anfang Juni 2015. Das Paar traf andere Eingewanderte, um sich ein umfassendes Bild zu machen über das Land, das flächenmäßig etwa so groß ist wie Niedersachsen und 1,3 Millionen Einwohner hat. Bald wurden sie bestätigt in ihrem Gefühl: „Das ist unser Land.“
Kaum zu Hause angekommen, machte sich ihr Mann im Internet auf die Suche nach Wohnmöglichkeiten: Sie wollten ein kleines Haus finden, um keine Mietbelastungen zu haben. „Schon nach zwei Tagen sprang uns ein Angebot ins Auge, das unserem Minibudget entsprach und gefiel.“
Gleich am folgenden Wochenende fuhren sie wieder nach Estland, um das kleine Holzhäuschen in der Nähe der Hafenstadt Pärnu zu besichtigen. Alles klappte wie am Schnürchen: „Gesehen, gefallen und den Kauf perfekt gemacht“, sagt Brigitte Kaiser. Danach standen noch zwei Renovierungen an – und am 1. November 2015 war es so weit: Sie zogen nach Estland, nur wenige Monate, nachdem sie erstmals über das Auswandern nachgedacht hatten.
Immer mehr Rentner zieht es ins Ausland
Die Kaisers sind kein Einzelfall. Eine steigende Zahl an Deutschen zieht im Ruhestand ins Ausland: 2018 überwies die Deutsche Rentenversicherung 240.467 Deutschen die Bezüge ins Ausland, 1993 waren es mit 116.083 noch weniger als die Hälfte. Die beiden favorisierten Länder sind die Schweiz mit gut 26.000 Rentnern und Österreich mit gut 25.000 Beziehern. Der Vorteil hier: Es gibt keine Sprachbarriere.
Brigitte Kaiser und ihr Mann hatten allerdings auch in Estland nie Probleme mit der Verständigung: „Mit Englischkenntnissen kann man alles gut meistern“, erzählt sie. Inzwischen kann sie einige Brocken Estnisch, bisweilen verwendet sie auch ein Übersetzungsgerät oder schlicht Hände und Füße. „Ich habe bis jetzt nur hilfsbereite Menschen getroffen“, sagt sie.
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Die Formalitäten stellten sich als erfreulich unkompliziert heraus: Für die Rentenversicherung war lediglich eine Adressenummeldung nötig, und da ihre gesetzliche Krankenkasse einen Vertrag mit Estland, bedurfte es auch hier nur einer Ummeldung. Dazu hatte das Paar noch Glück mit dem Vermieter in Deutschland: „Er hatte vollstes Verständnis und uns in jeder Hinsicht unterstützt“, erzählt Brigitte Kaiser.
Ein Leben ohne Stress
Estland ist für sie wie ein Traumland: „Hier ist alles so einfach, wie ich es aus meiner Kindheit auch von Deutschland kannte.“ Die Menschen sperrten auf dem Lande ihre Autos nicht ab, wenn sie zum Einkaufen fahren. Noch nie habe sie einen gestressten Menschen gesehen. „Bildet sich in der Post eine Schlange und ein älterer Mensch braucht länger für seine Formalitäten, gibt es weder genervtes Gebrumme noch nervöses Hin- und Herschaukeln oder Augenverdrehen. Es dauert eben so lange, wie es dauert.“
Das Leben sei so natürlich und auf das Wesentliche reduziert, das spiegele sich sogar in der Architektur wider: Bankhäuser oder Ämter sind funktional und technisch auf dem neuesten Stand, ohne unnötigen Glanz und Glamour, für den letztlich die Bürger aufkommen müssten. „Ich arbeite, um zu leben, und nicht, ich lebe, um zu arbeiten“ – diese Haltung passe gut zum Leben im Estland.
30 Seiten Witwenrentenantrag
Ihren Entschluss hat Brigitte Kaiser nicht bereut. Und das, obwohl 2018 ihr Ehemann starb. Bei den nötigen Formalitäten wurde ihr vielmehr wieder vor Augen geführt, wie kompliziert die Bürokratie in Deutschland ist. „Der Witwenrentenantrag war mehr als 30 Seiten lang. Ohne die Hilfe einer Freundin, die in Deutschland ein Beerdigungsinstitut unterhält, wäre ich wohl aufgeschmissen gewesen“, sagt sie. Und für die Beerdigungskosten hätte sie in Deutschland wohl das Zwanzigfache zahlen müssen – was angesichts des geringen Einkommens durchaus einschneidend gewesen wäre.
„Ich lebe nun allein in Estland in dem kleinen Häuschen mit Garten und hoffe, nie mehr nach Deutschland zurückkehren zu müssen“, sagt Brigitte Kaiser nach fast fünf Jahren. „Ich bin ein politischer und spiritueller Mensch. Wenn ich das Leben hier in Estland mit Deutschland vergleiche, kommt es mir vor, als käme ich aus einem riesigen Hamsterrad, in dem man kaum dazu kommt, das eigentliche Leben in sich aufzunehmen und seinen Sinn in diesem Leben zu finden. Hier ist es anders. Die Menschen haben genug Freiraum zu leben.“
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