Menschen in Brennpunkt-Stadtteilen mit hoher Inzidenz sollen künftig vorrangig geimpft werden. Vor allem Nordrhein-Westfalen drückt aufs Tempo. Doch in den Vierteln selbst sind längst nicht alle Bewohner überzeugt.
In der Debatte um die Reihenfolge der Impfungen gegen Covid-19 werden die Rufe nach einem verstärkten Impfen in sozialen Brennpunkten lauter. Intensivmediziner und zahlreiche Politiker sprachen sich am Freitag für rasche Impfungen in sozial benachteiligten Stadtteilen aus. Hierfür sollten auch mobile Teams zum Einsatz kommen.
Laut einer Studie von Sozialwissenschaftlern des Marktforschungsinstituts Infas 360 weisen sozial benachteiligte Stadtteile in der Tendenz höhere Infektionszahlen auf als gut situierte. „Im Dezember und Januar lag die Covid-19-Sterblichkeit in sozial stark benachteiligten Regionen um rund 50 bis 70 Prozent höher als in Regionen mit geringer sozialer Benachteiligung“, schreibt das Robert-Koch-Institut in einer aktuellen Analyse. Zuletzt sorgten Zahlen der Stadt Köln für Aufsehen, nach denen die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz im sozialen Brennpunkt Chorweiler über 500 liegt, im Villenviertel Hahnwald jedoch bei null.
„Von jeder Familie stirbt einer“
Seitdem ist zwar auch die Inzidenz in Hahnwald wieder nach oben gegangen – wegen der geringen Einwohnerzahl des Villenviertels ist der Wert dort besonderen Schwankungen ausgesetzt. Aber das Grundproblem bleibt bestehen. Und die Ursachen sind bekannt: Bewohner sozialer Brennpunkte leben beengter, arbeiten in Jobs ohne Homeoffice-Möglichkeit, verfügen über schlechteren Zugang zu medizinischer Hilfe und Informationen.
„Fast jeder hat hier einen Corona-Todesfall in der Familie oder im Bekanntenkreis“, sagte der Berliner Psychologe Kazim Erdogan aus dem Stadtteil Neukölln Mitte April zu FOCUS Online. Auch ein Bewohner von Köln-Chorweiler sagte am Freitag dem Nachrichtensender „Welt“: „Von jeder Familie stirbt einer.“
Mediziner sehen ebenfalls einen klaren Zusammenhang. „Auf den Intensivstationen liegen überdurchschnittlich viele Menschen aus ärmeren Bevölkerungsschichten, Menschen mit Migrationshintergrund und sozial Benachteiligte“, sagte der wissenschaftliche Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Christian Karagiannidis, am Freitag der „Rheinischen Post“.
Impf-Offensive in den Startlöchern
Vor allem Nordrhein-Westfalen will jetzt beim Impfen Tempo machen. NRW weist von allen deutschen Flächen-Bundesländern die größte Bevölkerungsdichte auf, gleich 30 Kommunen haben mehr als 100.000 Einwohner. Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) kündigte am Mittwoch im Landtag Schwerpunkt-Impfaktionen in sozialen Brennpunkten an. „Da wo Menschen in beengteren Wohnverhältnissen leben, ist die Gefahr sich anzustecken größer als bei jemanden, der in einem großzügig angelegten Einfamilienhaus wohnt“, sagte Laschet.
Die Kommunen wollen schnell loslegen. Die Stadt Köln will am Montag mit der bevorzugten Impfung von Menschen in 15 besonders „vulnerablen“ Vierteln beginnen. Voraussetzung sei allerdings, dass die Stadt bis dahin genügend zusätzlichen Impfstoff bekommen habe, sagte Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) am Freitag. „Ich habe die ganz große und begründete Hoffnung, dass es bald losgehen kann.“ Wuppertal kündigte eine ähnliche Aktion an, die genauen Details seien aber noch unklar. Die Stadt Essen startet in der kommenden Woche eine mobile Impfaktion für rund 700 Wohnungslose und 400 Flüchtlinge aus Asylunterkünften der Stadt.
„Alle haben Angst vor dem Impfstoff“
In den Vierteln selbst stößt die Impf-Offensive aber nicht überall auf Gegenliebe. Weil der Zugang zu Informationen schlechter ist, haben Mythen zum Coronavirus oder zum Impfstoff leichteres Spiel. „Die denken, dass das alles eine Lüge ist“, sagte eine Bewohnerin von Köln-Chorweiler der „Welt“. „Alle haben Angst vor dem Impfstoff“, erklärte ein junger Bewohner des Wuppertaler Viertels Oberbarmen-Schwarzbach der „Rheinischen Post“. Eine 24-Jährige, die ebenfalls in dem Viertel lebt, beteuerte gegenüber dem Blatt, sie sei keine Corona-Leugnerin. Aber: „Ich traue dem Staat nicht.“
Die Großstädte in NRW und anderswo stehen also nicht nur vor logistischen Problemen – sie müssen auch Aufklärungsarbeit leisten. Studien zufolge haben Menschen, die mehr über Impfstoffe wissen, auch eine höhere Bereitschaft zur Impfung. Den Kommunen ist das bewusst.
In Duisburg informieren nach Auskunft einer Sprecherin täglich Fahrzeuge des Ordnungsdienstes per Lautsprecherdurchsage in Quartieren mit vielen Neuinfektionen in mehreren Sprachen über Corona-Schutzmaßnahmen. In Herne werde seit dieser Woche über Lautsprecherdurchsagen in neun Sprachen dazu aufgefordert sich impfen zu lassen, sagte ein Stadt-Sprecher. Und Wuppertal plant einen Corona-Newsletter in zehn Sprachen, sogar ein mehrsprachiger Podcast sei in der Mache.
Um die Menschen in den dicht besiedelten Hochhausvierteln zu erreichen, seien muttersprachliche Unterstützung, Aufklärungsarbeit und eine enge Zusammenarbeit mit Sozialraumkoordinatoren und Hausärzten erforderlich, sagte Kölns Oberbürgermeisterin Reker. Und fügte hinzu: „Das wird eine Mammutaufgabe.“
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