Die Debatte um die Grenzwerte von Stickoxid und Feinstaub nimmt kein Ende. Die ZDF-Sendung „Frontal 21“ hat sich die Kritiker angeschaut. Die Erkenntnis der Recherche: Viele der mehr als 100 Mediziner geben zu, sich wissenschaftlich nicht mit dem Thema beschäftigt zu haben. Zudem hagelt es Kollegenschelte für Lungenarzt Dieter Köhler.
Die Diesel-Diskussionen sind zum Wissenschaftsstreit geworden – zumindest an der Oberfläche. Dahinter steckt vor allem ein politisches Thema rund um die Dieselfahrverbote, das leidenschaftlich erörtert wird. In vielen Städten sind die Dieselfahrer wütend. Ihnen kommen Dieter Köhlers Argumente gelegen. Der Lungenfacharzt fordert gemeinsam mit mehr als 100 Kollegen, die Grenzwerte abzuschaffen.
Und doch fehlt ihnen die fachliche Expertise. Das zeigen Recherchen des Politmagazins „Frontal 21“.
Der Wirbel um den Feinstaub
Wie schädlich sind Feinstaub und Stickoxid für die Gesundheit? Die amerikanische Umweltbehörde hat bereits vor drei Jahren rund 1500 Studien und Belege mit dem Ergebnis zusammengefasst: Stickoxide gefährden die Gesundheit auf unterschiedliche Weise. Fortlaufende Studien bilden außerdem für die Weltgesundheitsbehörde (WHO) die Grundlage für den aktuellen Grenzwert von 40 Mikrogramm. Die WHO diskutiert sogar darüber, diesen noch weiter zu senken.
Köhler ist allerdings ganz anderer Meinung und denkt, seine Einstellung werde absichtlich totgeschwiegen. Er wisse von Insidern, dass Wissenschaftler bei ihren Forschungsarbeiten immer nur eine Botschaft vermitteln sollten: „Feinstaub und NO2 muss gefährlich sein! Und so wurden die Studien extrem einseitig ausgewertet“, sagt er in der ZDF-Sendung.
In einer öffentlichen Stellungnahme zur Anfrage der „Frontal 21“-Redakteure schreiben Köhler und drei seiner Kollegen, ihre Zweifel an den aktuellen Grenzwerten basierten „vor allem auf umfangreichen Messdatenanalysen, anhand derer unter anderem nachgewiesen wurde, dass die gemessenen Feinstaubkonzentrationen zu einem überwiegenden Teil natürlichen Quellen zuzuordnen sind.“
Es handele sich somit um Feinstaub, der maßgeblich durch die Sonneneinstrahlung und meteorologische Vorgänge beeinflusst werde. Damit habe „die Menschheit quasi schon immer gelebt.“
Die Journalisten von „Frontal 21“ überprüfen, wie viel Grenzwert-Kritiker Köhler selbst zu epidemiologischen Schadstoffgefahren wissenschaftlich publiziert hat – und finden „nichts“.
Köhlers Forderung ist „unethisch“
„Ich kann beurteilen, dass er inhaltlich und fachlich zu Fragen der Auswirkung von Luftverschmutzung auf die Gesundheit der Menschen ein absoluter Laie ist“, sagt Nino Künzli vom schweizerischen Tropen- und Public Health Institut. Der Präsident der eidgenössischen Kommission für Lufthygiene ist seit 30 Jahren Epidemiologe und Umweltmediziner. Er verstehe nicht, weshalb ein Arzt jetzt an die Bevölkerung trete und sage, man müsse aus wissenschaftlichen Gründen die Grenzwerte aufheben. „Das ist unethisch.“
Die Expertise der Mediziner, die Köhlers Stellungnahme unterschrieben haben, hinterfragt die Sendung ebenso. Die Journalisten suchen in der größten öffentlichen Datenbank für medizinische Artikel nach Arbeiten zu Feinstaub und Stickstoffdioxid der Habilitierten und Professoren, darunter Matthias Griese oder Carl Peter Criee. Das Ergebnis: „auch da nichts“.
Sie kontaktieren die Unterzeichner der Unterschriftenliste, erreichen 76 von ihnen. Es antworten 25 – und räumen ein: Keiner von ihnen hat sich wissenschaftlich mit genau diesem Thema beschäftigt.
In der Stellungnahme schreiben Köhler und seine Kollegen, die Anfrage der „Frontal 21“-Redakteure erwecke den Anschein, als ob sie die „fachliche Eignung der Forscher in Frage stellen. Gegen diese Art der Unterstellung verwahren sich die Unterzeichner mit Nachdruck.“ Ein Großteil der Unterzeichner verfüge sehr wohl über eine entsprechende „Vielzahl wissenschaftlicher Peer-Review-Publikationen in relevanten Fachgebieten von der Emissionsentstehung, Immissionen über Messtechnik bis hin zur Medizin.“
Pauschale Studienkritik „ist unseriös“
Kollegenschelte kassiert Dieter Köhler unabhängig von der Sendung „Frontal 21“ auch vonseiten der Kinderpneumologen. Der Vorstand der Gesellschaft für Pädiatrische Pneumologie weist darauf hin, dass besonders gefährdete Gruppen wie Kinder und Jugendliche, schwangere Frauen, ältere Menschen sowie Patienten aller Altersgruppen mit chronischen Lungenerkrankungen spezielle Gesundheitsfürsorge brauchen. Das werde in der aktuellen Debatte häufig nicht erwähnt.
Der Vorstand schreibt weiter: „Wissenschaftliche Aussagen pauschal in Frage zu stellen, ohne hierfür Belege anzuführen, ist unseriös. Wer öffentlichen Zweifel an dem gesundheitsschädlichen Potential von Luftschadstoffen sät, ohne hierfür wissenschaftliche Arbeiten zu zitieren, verletzt die Grundsätze ärztlich-wissenschaftlichen Handelns.“
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