Kiffen gegen Kopfschmerzen – wenn der Apotheker zum "Dealer" wird

Tomke* sitzt im Schneidersitz auf der grünen Couch in ihrem Wohnzimmer. Vor ihr steht eine riesige Bong, die beinahe so groß ist wie ihr Oberkörper. Mit geübten Griffen zündet sie die Wasserpfeife an, saugt blubbernd den Rauch an und inhaliert ihn dann mit einem Zug. Sie legt ihren Kopf in den Nacken, hält für ein paar Sekunden die Luft an und atmet aus. Tomke kifft. Rund ein Gramm Cannabis raucht die 29-Jährige täglich.

Ihre riesige Glasbong ist für Tomke vor ein Hilfsmittel, um ihre Medizin einzunehmen. 

Früher ist Tomke oft über die niederländische Grenze gefahren, um sich illegal Gras zu kaufen. Knapp eine Stunde Autofahrt ist ihre Heimatstadt Emden, eine ostfriesische Kleinstadt mit rund 50.000 Einwohnern und vor allem als Geburtsort von Otto Waalkes bekannt, vom nächsten holländischen Coffee Shop entfernt. Heute reichen fünf Gehminuten zur nächsten Apotheke. Denn: Tomke bekommt ihr Cannabis seit einem Jahr auf Rezept, völlig legal. Man merkt es der fröhlich wirkenden jungen Frau nicht unmittelbar an, aber sie ist seit ihrer Geburt chronisch krank, leidet unter quälenden Kopfschmerzen. Auch Übelkeit, Erbrechen und Lähmungserscheinungen gehören zu ihrem Alltag. Das Kiffen soll ihr Leid lindern.

Kiffen auf Rezept

Seit mehr als zweieinhalb Jahren können Patienten in Deutschland medizinisches Cannabis auf Rezept erhalten. Laut dem Deutschen Arzneiprüfungsinstitut haben die Apotheken im Jahr 2018 rund 95.000 Rezepte von cannabishaltigen Zubereitungen und unverarbeiteten Blüten bearbeitet, knapp 68.000 mehr als im Vorjahr. Tomke erhält jährlich zwölf Rezepte. Die Krankheitsgründe für die Anwendung von medizinischem Marihuana können ganz unterschiedlich sein. Am häufigsten werde es konsumiert, um Schmerzen zu lindern, so Samir Rabbata, Pressesprecher der Bundesärztekammer. 69 Prozent der Patienten geben diesen Grund an. Weitere Anwendungsgründe sind laut Rabbata Spastiken mit elf Prozent, Übelkeit und Erbrechen mit vier Prozent, Depressionen mit drei Prozent, Appetitlosigkeit, Darmkrankheiten, Tourette, Epilepsie, Bewegungs- sowie Schlafstörungen mit einem Prozent.

Die schmerzlindernde Wirkung von Cannabis wird jedoch auch angezweifelt. Charly Gaul, Facharzt für Neurologie und Generalsekretär der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft, erklärt, dass der Gebrauch von Cannabis bei Kopfschmerzpatienten eine Rarität darstelle. Es gebe keinen wissenschaftlich tragfähigen Beleg dafür, dass Cannabiskonsum bei Migräne wirksam sei. Die Mehrzahl der Patienten beenden den Einsatz wegen Wirkungslosigkeit, sagt er.

Tomke erklärt dazu, dass zwar nicht die Kopfschmerzen verschwinden, sie jedoch besser schlafen kann. Außerdem komme sie so besser mit der Krankheit klar, kann sich entspannen und fühlt sich weniger gestresst. Cannabiskonsum helfe ihr, die Migräne zu akzeptieren. Und die medizinische US-Zeitschrift „The Journal of Pain“ berichtet von einer kanadischen Studie aus dem Jahr 2019, die zeigt, dass Cannabis das Potenzial besitze, Kopfschmerzen und Migräne zu verringern. Dazu wurden die Kurz- und Langzeitwirkungen von Marihuana bei Kopfschmerzen und Migräne erforscht. Die Auswertung umfasst Daten aus 12.293 Sitzungen. Die Probanden haben mithilfe einer App den Rauschzustand protokolliert. Laut Forschungsbericht konnte festgestellt werden, dass der Konsum der Blüten den Schweregrad der Kopfschmerzen und der Migräne um etwa 50 Prozent reduziere. Es wird jedoch auch darauf hingewiesen, dass die Wirksamkeit im Laufe der Zeit abnimmt, da die Patienten eine Art Toleranz für die Wirkstoffe entwickeln. 

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Quälende Symptome 

Der Schmerz sei jedoch nur ein nebensächliches Symptom, sagt Tomke. Zudem gehören Übelkeit und Erbrechen zu ihrem Alltag. Cannabiskonsum rege ihren Appetit wieder an. Bei einer Körpergröße von 1,60 Meter wiegt sie nur 44 Kilo. Tomke ist so dünn, dass sich unter ihrer Kleidung Schlüsselbein und Rippen abzeichnen. Lacht dieser zierliche Mensch aus vollem Halse los, hat man jedoch beinahe das Gefühl, neben einem Hamburger Hafenarbeiter zu stehen, so lautstark schallt es durch den Raum. 

Schon kurz nach ihrer Geburt haben Ärzte Migräne bei Tomke diagnostiziert. Quälende Schreie haben ihre Eltern und das Krankenhauspersonal in Alarmbereitschaft gesetzt. Weißes grelles Licht, fiese Geräusche und unangenehme Gerüche können Auslöser für Migräneattacken sein. Ein bekanntes Vorsymptom sei die visuelle Aura, erklärt Charly Gaul. Diese äußere sich durch ein eingeschränktes Sichtfeld und Flimmern. Eine aufsteigende halbseitige Gefühlsstörung an Bein, Arm oder im Gesicht könne außerdem zur unangenehmes Begleiterscheinung gehören. Gelegentlich käme es auch zu motorischen Schwächen und Wortfindungsstörungen.

All das kennt Tomke nur zu gut. Oft passiert es nachts – pulsierende Kopfschmerzen. Dann rennt Tomke zur Toilette, wo sich ihr Magen vom Abendbrot verabschiedet. Manchmal kann sie nicht ins Badezimmer eilen, denn sie spürt ihre Beine nicht. Lähmungserscheinungen habe Tomke leider oft, sagt sie. Auch Probleme beim Sprechen kenne sie gut. „Die meisten können sich nicht vorstellen, was es bedeutet Migräne zu haben. Das Leben ist anders. Ich musste drei Ausbildungen abbrechen, weil ich aufgrund der Schmerzen zu viele Fehlzeiten hatte, erklärt sie, „das Kiffen macht jedoch vieles erträglicher.“ Es habe Zeiten gegeben, da hätte sie gern aufgeben, sagt sie und hält kurz inne. Im Moment übt sie keine berufliche Tätigkeit aus. Sie kümmert sich um die Drei-Zimmer-Wohnung, geht gern golfen, trifft sich mit Freunden und verbringt viel Zeit mit ihrem Partner. „Auch er musste sich erstmal an die Situation gewöhnen“, sagt Tomke, während sie stilecht ostfriesischen Tee serviert. Inzwischen sind die beiden seit zehn Jahren ein Paar. Das Kiffen stört ihn nicht.

Tomkes „Dealer“? Ein Apotheker

„Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten“, sagt Samira Rabbata von der Bundesärztekammer. Voraussetzung sei, dass eine anerkannte medizinische Leistung nicht zur Verfügung stehe, im Einzelfall eine begründete Einschätzung des behandelnden Arztes vorliege oder eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome bestehe, erklärt er. Ein entsprechender Antrag werde dann der Krankenkasse weitergeleitet, die dann schließlich über eine Bewilligung entscheide. Vor eineinhalb Jahren bekam Tomke dann endlich den Bescheid: Sie durfte fortan offiziell legal kiffen und so wurde ihr Apotheker zum „Dealer“. „Anfangs war es komisch, mein Gras ganz legal und ohne Adrenalin-Kick aus einer stinknormalen Apotheke zu holen“, sagt sie mit einem breiten Grinsen. Inzwischen sei es jedoch vollkommen normal, sie werde bereits namentlich begrüßt, sobald sie die Ladentür öffne. Dann wird ihr nach Vorlage des Rezepts ihre grüne Medizin überreicht.

Umgerechnet ein Gramm Cannabis pro Tag bekommt Tomke verschrieben

Die kleine weiße Dose mit der Aufschrift „Cannabis Flos“ wirkt auf den ersten Blick unscheinbar. Tomke dreht den Deckel ab. Die staubig-aussehende, klebrige Pflanze verteilt ihren süßlichen und beißenden Geruch im Raum. Tomke fummelt einen kleinen Teil aus der Dose und steckt ihn in eine handliche Mühle. Sie mahlt damit das Gras klein, holt es wieder raus und mischt es auf einem gefalteten Blatt Papier mit etwas Tabak. Dann stopft sie die Mischung in das Bong-Köpfchen und zündet sie an. Eine Szenerie, die sie sich außerhalb ihrer Drei-Zimmer-Wohnung nicht vorstellen kann. „Obwohl ich es darf, werde ich in der Öffentlichkeit kein Gras rauchen. Auch nicht eingerollt in einem Joint“, erklärt Tomke. „Gerade in einer Kleinstadt wie Emden, ist Kiffen ein seltenes Bild für den alteingesessenen Ostfriesen. Ich möchte einfach niemanden verärgern.“

*Name von der Redaktion geändert

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