In Deutschland steigt die Rate der Totgeburten seit einigen Jahren kontinuierlich an. Das zeigen Daten des Statistischen Bundesamts. Doch woran liegt das? Experten bringen unterschiedliche Erklärungen ins Spiel.
Es sind Zahlen, die auf den ersten Blick erschreckend wirken: In Deutschland hat die Zahl der Totgeburten in Deutschland ein Hoch erreicht. Zwischen den Jahren 2007 und 2020 verzeichnete das Statistische Bundesamt bereits einen leichten Anstieg. Im Jahr 2021 kam es dann zu einem Sprung im Vergleich zu den Vorjahren: 3420 Kinder kamen 2021 tot zur Welt, im Jahr 2020 waren es 3162. Daraus ergibt sich eine Zunahme von 8,2 Prozent – betrachtet man die absoluten Zahlen.
Von „Totgeburt“ wird gesprochen, wenn die 24. Schwangerschaftswoche erreicht war, oder das Kind bei der Geburt mindestens 500 Gramm wog. Hinter diesen Zahlen steckt viel Leid und jeder Verlust eines Kindes – egal, wie viel es gewogen hat – ist sehr schmerzlich für die Eltern.
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Der zweite Blick auf die Raten fällt dann jedoch weit weniger drastisch aus: 2007 hatten die Statistiker den bislang niedrigsten Wert verzeichnet: 3,5 Totgeburten je 1000 Geborenen. Seit 2010 steigt die Quote tendenziell wieder an. 2019 und 2020 gab es jeweils 4,1 Totgeburten je 1000 Geborene, 2021 waren es 4,3 Totgeborene je 1000 Geborene.*
Als einen der Gründe für die steigenden Raten nennen Fachleute das steigende Alter der Mütter. Doch die Ursachensuche ist komplexer als das.
Warum werden so viele Kinder tot geboren?
Was sind die Gründe für den nun schon länger andauernden Anstieg? Antworten auf diese Frage sind schwer zu finden. Anfragen von FOCUS online an die Deutsche Gesellschaft für Pränatal- und Geburtsmedizin, die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, den Deutschen Hebammenverband, sowie das Bundesgesundheitsministerium blieben unbeantwortet. Der Bundesverband der Frauenärzte sagte auf Anfrage des Evangelischen Pressedienst (epd): „Uns stehen keine anderen Daten zur Verfügung als die Erhebungen durch das Statistische Bundesamt“.
Julia Böcker, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leuphana Universität Lüneburg, hat dagegen einige plausible Erklärungsansätze. Die Soziologin hat ihre Doktorarbeit über den gesellschaftlichen Umgang mit Fehlgeburt und Stillgeburt geschrieben.
Im Gespräch mit FOCUS online gibt sie zunächst zu bedenken, dass die Zahlen richtig eingeordnet werden müssen: „Wichtig zu beachten ist, dass diese 7,5 Prozent [Anstieg 2019 auf 2021, Anm. d. Red.] sich auf die Gesamtsumme von totgeborenen Kindern beziehen. Und die ist gestiegen – aber 2021 war auch ein Rekordjahr bei den Lebendgeburten.“ Und wenn man das in Relation betrachte, gab es natürlich auch insgesamt einfach mehr Schwangerschaften und Geburten. „Deshalb ist so ein Anstieg auch nicht ungewöhnlich, sondern passt zum Anstieg den Schwangerschaften insgesamt.“ Ihren Punkt belegt der oben erwähnte nur leichte Anstieg der Totgeburtenrate.
Fehlgeburt oder Totgeburt
Darüber hinaus sei bei der Interpretation der Zahlen Vorsicht geboten. Zwar seien die Zahlen seit 2007 tatsächlich gestiegen. Aber es gab zunächst im Jahr 2013 eine Neuregelung für „Sternenkinder“. Eltern bekamen die Möglichkeit, die Geburt beim Standesamt dauerhaft dokumentieren zu lassen und ihrem Kind damit offiziell eine Existenz zu geben – es war jedoch keine Pflicht, sondern blieb den Eltern überlassen.
Im Jahr 2018 folgte eine entscheidende Änderung, welche Kriterien für eine Totgeburt statt Fehlgeburt gelten.
Definition Totgeborene:
- vom 1.7.1979 bis 31.3.1994: Geburtsgewicht mindestens 1000 Gramm
- ab 1.4.1994: mindestens 500 Gramm
- ab 1.11.2018: mindestens 500 Gramm oder die 24. Schwangerschaftswoche war erreicht
„Das medizinische Phänomen hat sich also vielleicht nicht verändert, sondern es hat etwas mit der Zuordnung zu der rechtlichen Kategorie ‚Fehlgeburt‘ oder ‚Totgeburt‘ zu tun“, sagt Böcker.
Gleichzeitig bedeute das nicht, dass für den aktuellen Anstieg nicht auch andere Faktoren eine Rolle spielen könnten.
Verschiedene Medien haben in diesem Zusammenhang eine Studie der Professoren Christof Kuhbandner und Matthias Reitzner erwähnt, die im Mai in der medizinischen Fachzeitschrift „Cureus“ veröffentlicht worden war.
Corona-Infektionen könnten eine Rolle spielen
Anders als das Statistische Bundesamt hatten die Professoren bei ihren Analysen die Zahl der Totgeburten eines Quartals ins Verhältnis zu den Geburten des nächsten Quartals gesetzt und mit dieser Methode einen extremen Anstieg der Totgeburten im vierten Quartal 2021 um 19,4 Prozent entdeckt. Auch 2022 bleibe die Totgeburtenrate demnach „ungewöhnlich hoch“, weshalb sie es für geboten halten, mögliche Zusammenhänge zwischen Totgeburten sowie Corona-Impfungen und -Infektionen näher zu untersuchen.
Allerdings sehen Fachleute die Analyse von Kuhbandner und Reitzner kritisch. Die Zahl der Totgeburtenquote sei kein Indiz für eine mögliche Gefahr der Corona-Impfungen. Das sagte Jonas Schöley, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Gesundheitszustand der Bevölkerung am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock, dem „ARD-Faktenfinder“: Denn diese Quoten stiegen in Deutschland bereits seit Jahren an, der Trend sei daher anhaltend und nicht neu, wie eine Untersuchung zeige.
Tatsächlich werden aber Corona-Infektionen während der Schwangerschaft mit einem erhöhten Risiko für das ungeborene Kind in Verbindung gebracht: Die von der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin veröffentlichte Cronos-Registerstudie zu Covid-19 in der Schwangerschaft zeigte im Jahr 2022 eine erhöhte Rate an Totgeburten von Frauen, die mit dem Coronavirus infiziert waren.
„Reflex, den Frauen die Schuld zu geben“
Wolf Lütje, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG) nannte dem Evangelischen Pressedienst zudem die steigende Anzahl künstlicher Befruchtungen sowie eine höhere Kaiserschnittrate während der Corona-Pandemie als mögliche Gründe für den Anstieg der Totgeburten in Deutschland. Außerdem behauptete der Frauenarzt und Psychotherapeut, dass viele Schwangere es verlernt hätten, in sich hineinzuhören und die Bewegungen ihres Kindes wahrzunehmen. Sie würden daher Auffälligkeiten zu spät bemerken.
Dieser Begründung möchte Julia Böcker entschieden widersprechen: „So eine Aussage finde ich unfassbar, denn es gibt so einen Reflex, den Frauen die Schuld dafür zu geben, wenn das Kind nicht lebend zur Welt kommt. Ich glaube, dass das der letzte Grund ist, warum ein Anstieg von Totgeburten zu verzeichnen ist. Ich persönlich kenne aus der Forschung keine stichhaltigen Beweise, dass das frühzeitige Spüren oder Ähnliches Fehl- oder Stillgeburten verhindern könnte.“
Trend: Weniger Schwangerschaftsabbrüche trotz Fehlbildungen
Stattdessen hat Böcker eine weitere Erklärung für den Anstieg der Totgeburten: „Es hat sich in den letzten Jahren in Deutschland ein Trend entwickelt, dass wenn Eltern eine infauste Diagnose bekommen, also wenn ihnen zum Beispiel gesagt wird, dass ihr Kind eine Fehlbildung hat, die mit dem Leben nicht vereinbar ist und dass das Kind sehr sicher entweder noch im Mutterleib oder nach der Geburt sterben wird, diese Eltern dazu ermutigt werden, die Schwangerschaft fortzusetzen und nicht abzubrechen.“
Das heißt also, dass ungeborene Kinder, die auf jeden Fall sterben werden, bis zu einem späteren Schwangerschaftszeitpunkt weitergetragen und dann auch geboren werden und als Totgeburt zählen, weil sie tot zur Welt kommen oder innerhalb der ersten sieben Tage sterben.
Deshalb könne sie sich vorstellen, dass sich auch dadurch eine Veränderung ergeben hat: Dass eben mehr Kinder später tot zur Welt kommen, die früher vielleicht durch einen Schwangerschaftsabbruch zu einem früheren Zeitpunkt geboren worden wären.
*Anmerkung: Mittlerweile wurden auch die Zahlen für 2022 veröffentlicht. Die Rate ist weiter gestiegen, so waren es 4,4 Totgeborene je 1000 Geborene. Die absolute Zahl ist 2022 dagegen wieder gefallen – auf 3247.
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