Hypochondrie in der Corona-Pandemie: Die Angst davor, das Haus zu verlassen

In Molières Komödie "Der eingebildete Kranke" belustigt die Hauptfigur Argan mit seiner Arzt-Versessenheit das Publikum. Ständig lässt er sich von verschiedenen Ärzten diverse Mittel für nichtexistierende Krankheiten verschreiben, die ihn in seinem Wahn noch bestätigen, um daraus Profit zu schlagen. In Wahrheit ist Hypochondrie aber gar nicht so lustig – schon gar nicht in Zeiten einer globalen Pandemie

Während der letzten zwei Jahre bekam das Thema der mentalen Gesundheit viel Aufmerksamkeit. Vor allem Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen litten unter der Isolation der Lockdowns, bei vielen lösten Stress und Einsamkeit eine solche Episode erst aus. Doch eine bestimmte Gruppe fühlte sich bisher gar nicht repräsentiert: Hypochonder. Das berichtete uns zumindest stern-Leserin Sina.

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Angefangen hat alles vor zehn Jahren

Sina ist enttäuscht von der Berichterstattung in den Medien. Meist ginge es in den Medien um sogenannte Querdenker, oder um Menschen, die durch die Folgen der Pandemie wirtschaftliche Sorgen haben – "Das will ich auch alles gar nicht kleinreden, aber es wird überhaupt nicht über die Leute gesprochen, die Angst vor Corona haben, die unsere Maßnahmen viel zu lasch finden und deshalb kaum noch das Haus verlassen", sagt die junge Frau. Denn ihre Krankheit schränkt sie so sehr ein, dass sich ihre Lebensqualität massiv verschlechtert habe.

Angefangen hat bei Sina alles vor circa zehn Jahren, als sie in ihrem WG-Zimmer auf dem Bett lag und Schmerzen im linken Arm spürte. Dann tat sie das, wovon jeder abrät: googeln. Und als sie dann auf dem Bildschirm plötzlich die Symptome eines Herzinfarkts stehen hatte, eilte sie in die Notaufnahme – und bei diesem Besuch sollte es nicht blieben. Danach suchte sie sich ihren ersten Kardiologen auf. "Ich habe mittlerweile sechs Hausärzte, drei Kardiologen, drei Frauenärzte und zwei Hautärzte. Dort lasse ich mich ich regelmäßig, also ungefähr alle zwei Wochen, durchchecken." Die Ärzt:innen wissen, dass Sina an Hypochondrie leidet. Manche sind weniger verständnisvoll, andere zeigen wiederum Verständnis. Wie oft sie seither bei Ärzten und in der Notaufnahme saß, kann Sina nicht mehr zählen. "So 300 bis 400 Mal bestimmt".

Wenn die Pandemie lähmt

Sina hat seitdem zwei Therapien gemacht, danach hatte sie Krankheit gut im Griff. Diagnostiziert wurden bei ihr eine Hypochondrie, eine generalisierte Angststörung und eine Panikstörung. In der Praxis sieht das so aus: "Ich habe ein Symptom und dann steigere ich mich rein, dann kommt die Panik, und so weiter. Sind es Schmerzen im Bein, ist es eine Thrombose. Schmerzen im Kopf, ist gleich eine Gehirnblutung", so die junge Frau. Irgendwann wisse man aber damit umzugehen. Doch dann – dann kam Corona.

Die Pandemie habe sie komplett zurückgeworfen, berichtet Sina. Freunde treffen ginge gar nicht mehr – wenn, dann nur, wenn alle vorher einen PCR-Test gemacht haben. Ihre Familie sei sehr vorsichtig, sodass sie ab und zu ihren Papa sehen könnte. Ihre Mutter glaube leider nicht an die Pandemie und habe sich in Verschwörungserzählungen verstrickt. Daher sei der Kontakt abgebrochen. Und auch ihren vorherigen Job habe Sina aufgeben müssen. Heute hat sie glücklicherweise einen verständnisvollen Arbeitgeber, der ihr das Arbeiten aus dem Homeoffice ermöglicht. Ansonsten macht sie jeden Tag einen Test, isoliert sich zuhause, traut sich kaum nach draußen und bekommt Panik, wenn ihr Freund – mit dem sie zusammenlebt – auf der Arbeit einen Corona-Kontakt hatte.

Betroffene sind überzeugt an einer schweren Krankheit zu leiden

"Menschen mit einer Hypochondrie – oder einer hypochondrischen Störung – sind überzeugt davon, an einer schweren Krankheit zu leiden", erklärt Dr. Alexander Spauschus, Chefarzt an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Schön Klinik Hamburg. Die Betroffenen spürten dann auch entsprechende Symptome, wie zum Beispiel Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen, und denken, das müsse ja auf eine körperliche Ursache zurückzuführen sein. Sie seien daraufhin der festen Überzeugung, dass dies etwa ein Hirntumor oder Darmkrebs sein müsste.

Darauf folge wiederum eine wiederholte Abklärung bei verschiedenen medizinischen Fachrichtungen: "Das Spannende, was dann – leider – passiert ist, dass Aussagen, die uns normalerweise beruhigen würden – dass die Internistin oder der Internist, Frauenarzt, Neurologe, sagt: 'Sie haben nichts' –, eben nicht diesen beruhigenden Effekt hat", so Spauschus weiter. Dies führe dann dazu, wie im Falle von Sina, dass Patient:innen regelmäßig verschiedene Ärzt:innen derselben Fachrichtung aufsuchen. Gleichzeitig werden die Missempfindungen ängstlich beobachtet und in der Regel als Bestätigung der vermuteten Diagnose genutzt. Ein Teufelskreis entsteht.

Das erste Indiz ist die Vermeidung

Ein weiterer wichtiger Punkt sei die Vermeidung, weiß Dr. Spauschus. "Wenn es zur Vermeidung kommt, dann ist das Hinweis darauf, dass dringend Hilfe benötigt wird", so der Experte. Das seien dann Dinge, die einem eigentlich gutgetan haben und die man plötzlich aus Angst vermeidet. Wie in Sinas Fall, seine Freund:innen nicht mehr zu treffen. Dann sollte man zumindest einmal mit seinem Hausarzt oder seiner Hausärztin sprechen, ob die Beschwerden denn auch eine andere Ursache haben könnten, sprich: sich öffnen für alternative Erklärungsmodelle. "Sobald Menschen bereit sind, sich ein alternatives psychologisches Erklärungsmodell zumindest anzuschauen und mal zu überlegen, ob das auf sie zutreffen könnte, dann ist die Krankheit fast bezwungen. Aber das ist genau das, was für Betroffene schwierig ist", sagt Spauschus.

Auf keinen Fall Symptome googeln

Sowohl der Experte wie auch Sina raten: bloß nicht googeln. Eigentlich ein simpler Rat, doch Dr. Google ist schnell einmal konsultiert und spuckt mit Vorliebe beunruhigende Diagnosen aus. Besser sei es, sich abzulenken, zum Beispiel durch Bewegung. "Die Symptome treten dann auf, wenn ich zu Hause auf der Couch sitze", erklärt die junge Frau. Und dann braucht es auch ärztliche Unterstützung – aber eben auf mentaler Ebene. "Zunächst einmal ist Psychotherapie das Mittel der Wahl", sagt Dr. Spauschus. Medikamente sind eher zweitrangig. "Was man neben der Verhaltenstherapie quasi von außen selbst machen kann, sind Entspannungsübungen wie zum Beispiel progressive Muskelentspannung."

Auch der Experte rät zu Bewegung: "Ich rede da von Ausdauer-Aktivitäten, also Schwimmen, Radfahren, Gehen. Spaziergänge reichen schon völlig aus. Wichtig wäre, von der Dauer mindestens eine halbe bis Dreiviertelstunde. Zwei, drei Mal, besser vier Mal die Woche. So, dass der Puls ein bisschen überrumpelt wird. Es geht aber nicht darum, an seine Grenzen zu gelangen."

Sich nach Hilfsangeboten umschauen

Auch Sina möchte eine weitere Therapie machen und rät jeder Person, die von Hypochondrie betroffen ist, dasselbe zu tun – auch wenn der Weg manchmal mühselig ist. "Ich suche seit eineinhalb Jahren einen Therapieplatz und ich habe 632 Leute angerufen und jeder sagte 'Nein'. Das weiß ich so genau, weil ich eine Excel-Tabelle führe", berichtet sie. Freie Psychotherapieplätze sind in Deutschland bekanntermaßen skandalös rar gesät. Viele Betroffene suchen Monate oder Jahre.

Generell hofft die 30-Jährige, dass es in Zukunft mehr Toleranz für psychische Erkrankungen, auch für die Hypochondrie gibt. Denn ein Mensch, der an Hypochondrie leidet, der übertreibt nicht einfach nur, sondern ihm geht es oft ganz real so schlecht, dass er wie gelähmt ist. Solange in der Welt noch eine Pandemie wütet, bleibt Sina erst einmal weiterhin zu Hause – weil sie sich derzeit nur dort sicher fühlt.

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