Nicole Jäger ist 39 Jahre alt und wog einmal 340 Kilo. Nachdem sie sich dazu entschlossen hatte, unter ärztlicher Aufsicht ihr Gewicht zu reduzieren, musste sie eine Erfahrung mit einer Ärztin machen, die eigentlich keinem Menschen jemals passieren sollte. Im stern-Interview weist die Stand-up-Comedan und Autorin aus Hamburg darauf hin, dass sie mit diesem Erlebnis kein Einzelfall ist und gibt Tipps, wie Betroffene mit einer solchen Situation umgehen können.
Frau Jäger, Sie haben im Februar an der VOX-Show „Showtime of my Life – Stars gegen Krebs“ teilgenommen. Zuvor hatten Sie Bedenken mitzumachen. Warum?
Ich hatte absolut Sorge, als die Anfrage kam, und habe erstmal abgesagt. Mir war vollkommen klar, dass ich mich auf gar keinen Fall im deutschen Fernsehen ausziehen werde. Ich wollte auch nicht nackt tanzen – und schon gar nicht oben ohne. „Soweit kommt’s noch!“, dachte ich. Das liegt vor allem daran, weil ich so bin wie ich bin: Als dicke Frau ist man eh schon exponiert. Es gab sehr viele Gründe für mich, nicht mitzumachen. Ich sehe nicht gut aus, mein Körper ist eine Ruine. Ich habe zwar sehr viel abgenommen, aber bin mit 150 Kilo Körpergewicht trotzdem noch übergewichtig. Ich habe Narben, Cellulite und alles das, was man als Frau nicht haben möchte. Ich bin nicht straff, sondern sehe so aus, wie man aussieht, wenn man sehr viel abgenommen hat. Hinzu kam auch noch die Angst vor den Reaktionen.
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Was hat Sie schließlich doch noch zur Teilnahme bewegt?
Ich habe lange mit meinem Manager Marc und meiner besten Freundin darüber diskutiert und versucht, ihnen zu erklären, wieso ich an der Show nicht teilnehmen möchte. Bei diesen Gesprächen habe ich festgestellt, dass ich eigentlich genau aus diesen Gründen mitmachen muss. Es wird immer über Diversität gesprochen, aber gezeigt wird sie nie. Die Menschen müssen verstehen, dass Übergewicht zwar ein Problem ist, aber es ist allein das Problem der betroffenen Person. Die Allgemeinheit geht das einfach nichts an.
Wie waren die Reaktionen nach der Show?
Ich hatte Sorge, dass ich ein ganzes Team einstellen muss, welches sich dann um die Hasskommentare kümmert. Leute, die sich nicht im Zaum halten können, gibt es ja immer. Insgesamt waren die Reaktionen aber sehr, sehr positiv und überwältigend für mich. Es waren so wahnsinnig viele Kommentare. Der überwiegende Teil kam von Frauen, die schlank sind und die sich auch nicht perfekt fühlen – aber auch viele Männer haben geschrieben. Ich hätte nie damit gerechnet, dass das so viele Menschen bewegt. Und letztendlich zeigt es auch, wie wichtig das Thema ist.
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Haben Sie persönlich negative Erfahrungen mit Ärzten gemacht?
Oh ja. Als ich um die 340 Kilo wog und ich etwas anderes tun wollte, als immer nur diäten. Ich dachte, dass ich sonst wirklich noch sterbe. Ich wollte mir ärztliche Hilfe suchen, weil ich gemerkt habe, dass ich allein nicht weiterkomme. Also ging ich in eine Berliner Praxis. Körperlich war es allein schon eine wahnsinnige Herausforderung, überhaupt erstmal das Haus zu verlassen. Ich kam mit starken Schmerzen und verschwitzt in der Praxis an und wurde angeschaut wie ein Insekt. Die Ärztin fragte, was ich will. Ich antwortete ihr, dass ich einen Termin habe, ich ja offensichtlich ein Problem habe und Hilfe brauche. Daraufhin hatte sie den Ratschlag für mich, nicht in ihrer Praxis zu sterben. Sie habe nämlich keine Ahnung, wie sie mich sonst wieder heraustragen soll. Das sagte sie nicht im Behandlungszimmer, sondern noch am Tresen. Um sie herum stand Praxis-Personal, die das alle wahnsinnig witzig fanden. Die Ärztin hat sich dann aber doch noch bequemt, ein Blutbild zu machen, was ich eine Woche später abholen hätte können. Sie sagte aber auch, dass es besser für die Gesellschaft wäre, wenn ich nicht überlebe, weil aus Menschen wie mir niemals etwas wird. Ich würde dem System nur auf der Tasche liegen, weil ich als fette Frau Abschaum bin.
Haben sich auch Menschen bei Ihnen gemeldet, die ähnliche Erfahrungen mit Ärzten gemacht hatten?
Hunderte. Es kamen ganz viele persönliche Geschichten unter meinen Beiträgen, aber auch per Nachricht oder Mail. Viele Menschen schreiben, dass sie sich auch schon abwertend behandelt gefühlt haben, dass sie komisch angefasst wurden oder dass ihnen gesagt wurde, dass sie eklig sind.
Waren darunter auch Menschen, die deshalb krank wurden?
Ein paar haben erzählt, dass sich Symptome verschlimmert haben, nachdem sie vom Arzt abgewiesen wurden.
Gibt es viele übergewichtige Menschen, die sich schämen, zu einem Arzt zu gehen?
Unheimlich viele übergewichtige Frauen trauen sich nicht zur Krebsvorsorge. Auch aus meiner Community bestätigen das viele Personen. Im allerschlimmsten Fall bedeutet das, dass die Menschen deshalb früher sterben. Nur, weil die Betroffenen größere Angst vor der Reaktion eines einzigen Menschen haben, als vor einer negativen Diagnose. Dieser Zustand ist nicht haltbar und das Thema wird sich nicht verändern, wenn wir es nicht offen kommunizieren.
Haben Sie eine Botschaft für Menschen, wie man doch Mut fassen kann?
Vor allen Dingen glaube ich, dass es okay ist, nicht perfekt zu sein. Es ist auch okay nicht okay zu sein. Scham vor einem Arzt darf niemals der Grund sein, (im schlimmsten Fall) früher zu sterben. Wenn man sich nicht traut, sollte man sich jemanden mit in die Praxis nehmen. Vielleicht den Ehepartner oder eine Freundin.
Wie können Betroffene mit der Situation umgehen, wenn ein Arzt doch mal etwas Unschönes sagt?
Da gibt es zwei Möglichkeiten, wie man für sich selbst noch seinen Frieden finden kann: Entweder man macht erneut einen Termin in der Praxis und spricht offen an, was nicht okay war – oder man sucht sich einen anderen Arzt. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, auf Augenhöhe behandelt zu werden, egal ob sie beim Arzt sind oder bei der Post. Egal ob groß, klein, dick, dünn, behindert oder körperlich nicht perfekt. Ich habe inzwischen wahnsinnig tolle Ärzte und es gibt auch sehr viele davon.
Was wünschen Sie sich von Ärzten und Medizinern, denen die Scham und Angst ihrer Patient:innen vielleicht gar nicht so bewusst ist?
Nach „Showtime of my Life“ wurde ich auch von vielen Ärzten angesprochen mit: „Hey Frau Jäger, ich bin auch so jemand, der Patienten normalerweise gerne vorverurteilt hat. Das ist mir gar nicht so bewusst gewesen. Ich versuche aber, das künftig anders zu machen.“ Das war eine der besten Reaktionen. Es gibt immer wieder Ärzte, die einem prinzipiell erstmal einen Vortrag halten über das Übergewicht, aber Übergewichtige sind nicht blind oder bescheuert. Er kann sagen: „Ihr Übergewicht ist ein Risikofaktor für eine Brustkrebserkrankung“, denn das hat etwas mit seiner Diagnose zu tun.
Ich möchte von einem Arzt aber nicht seine Meinung als Privatperson hören, weil ich ja nicht sein Freund werden möchte. Eine Person zu verurteilen, ist nicht die Aufgabe eines Mediziners, sondern seine Aufgabe ist es zu helfen. Übergewichtige Menschen wissen, dass sie übergewichtig sind. Sie werden nämlich ständig darauf angesprochen. Also gehen die Menschen eh schon mit einem emotionalen Krater zum Arzt. Wenn der dann noch eine Bombe reinwirft oder darauf rumhackt, geht die Person nicht nach Hause und nimmt plötzlich ab. Die Person geht nach Hause, fühlt sich schlecht und nimmt fünf Kilo zu.
Ich habe fast nur gute Erfahrungen damit gemacht, direkt zu sagen: Bevor ich gar nicht zum Arzt gehe, sage ich lieber, wenn ich mich unwohl fühle. Persönlich begegne ich Ärzten sehr offen und kommentiere, was sie sehen. Man darf nicht aggressiv sein, das bringt einen ja auch nicht weiter. Ich erzähle dann meine Geschichte und gebe zu verstehen, dass mir bewusst ist, dass mein Übergewicht ein Problem ist. Die Verantwortung liegt nicht nur auf der Seite der Ärzte, sondern auch auf der Seite des Patienten. Kommunizieren und gemeinsam einen Weg finden, halte ich für richtig.
Alle Folgen von „Showtime of my Life – Stars gegen Krebs“ gibt es in voller Länge bei RTL+
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