SPIEGEL ONLINE: Herr Jellouschek, warum haben wir so große Angst vor Trennungen und Verlusten?
Jellouschek: Jede Trennung verletzt Grundbedürfnisse. Wir alle suchen zwei Dinge im Leben: Autonomie einerseits und sichere Bindung andererseits. Durch eine Trennung oder Scheidung wird das Grundbedürfnis, gebunden zu sein, verletzt.
SPIEGEL ONLINE: Ist nicht alles besser, als unglücklich gebunden zu sein?
Jellouschek: Selbst die schlechteste Beziehung, in der die Liebe bereits verloren gegangen ist, erfüllt noch eine ganze Menge Bedürfnisse: Immer ist jemand da, ich habe Unterstützung, bin vielleicht verheiratet und mit meinem Partner als Paar etabliert. Mit einer Trennung erleide ich plötzlich auch einen Statusverlust. Ich muss nun alle Alltagsdinge alleine erfüllen. Jemand, der vorher sehr auf Autonomie pochte, staunt in dieser Lage vielleicht, dass Unabhängigkeit in Alleinsein kippen kann. Es beginnt eine fragile Übergangsphase, in der viele den Blick zurückwerfen.
SPIEGEL ONLINE: Ist das nicht notwendig, um sich ganz lösen zu können?
Jellouschek: Eine Weile schon, aber man sollte sich auf keinen Fall darin verstricken. Viele Menschen, die eine Trennung durchleben, machen dem anderen Vorwürfe, um sich leichter zu lösen. Doch in Wirklichkeit ist das eine ganz ungünstige Strategie. Denn man bleibt dem Ex-Partner dadurch inniger verbunden, als man es als Paar vielleicht war. Man begibt sich in die Opferrolle, verstrickt in die Vergangenheit.
SPIEGEL ONLINE: Wer neigt eher zum Ankläger: Männer oder Frauen?
Jellouschek: Es kommt immer auf den Einzelfall an. Oft sind es eher Frauen, die noch Jahre nach einer Trennung dem Mann die alleinige Schuld zuschreiben. Manche Männer hingegen reflektieren nicht wirklich. Sie stürzen sich in etwas Neues, um vom Partner loszukommen. Auch das ist eine sehr ungünstige Strategie. Dadurch kann man sich den Lerngewinn vermasseln und schnell eine neue Trennung erleben.
SPIEGEL ONLINE: Manche Paare machen sich das Leben zur Hölle und vermeiden trotzdem die Trennung.
Jellouschek: Ja, zu einem hohen Preis, denn auch das Aufschieben einer Trennung ist ein Fehler. Ich verschließe die Augen vor der Realität und bleibe in einer Beziehung, die mich stark blockiert. Ich muss einen großen Teil meiner Gefühle ausblenden und bin immer weniger als eine lebendige, fühlende Person ansprechbar.
SPIEGEL ONLINE: Was haben Sie in Ihren Jahren als Paartherapeut über die Liebe gelernt?
Jellouschek: Vor allem eines: Es gibt keinen Ausgleich in der Liebe und keine Gerechtigkeit. Jemand, der dem anderen etwas nachträgt, fordert Gerechtigkeit, aber wenn die Liebe weg ist, ist sie weg. Niemand hat einen Anspruch darauf, geliebt zu werden, Liebe ist eine Gabe. Natürlich müssen Dinge wie Unterhalts- und Umgangsrecht gerecht geregelt werden. Aber das ist eine ganz andere Ebene, viele verwechseln das. Wenn Ex-Partner einander durch materielle Forderungen oder einen Rosenkrieg das Leben schwermachen, geht es psychodynamisch um den Wunsch nach Ausgleich dafür, nicht mehr geliebt zu werden.
SPIEGEL ONLINE: Sie plädieren in Ihrem neuen Buch dafür, zu trauern und den Schmerz zuzulassen.
Jellouschek: Wenn man den Trauerprozess und das Bedauern darüber, dass ein wichtiger Mensch nicht mehr im eigenen Leben ist, nicht zulässt, verhindert man die Loslösung. Gefühle sind ein wesentlicher Teil des Loslassens. Man sollte ehrlich zu sich sein und den Verlust eingestehen.
SPIEGEL ONLINE: Sie schreiben von Abbrüchen, die zu Aufbrüchen werden. Wer sich gerade in einem Scheidungsprozess befindet, wird da vermutlich bitter lachen.
Jellouschek: Menschen, die die Augen vor einer toten Liebe verschlossen haben, haben meist auch sehr viel Lebendigkeit verloren und wie erstarrt gelebt. Mir selber hat bei allen meinen Trennungen das Vertrauen geholfen, dass das Leben es im Grunde gut mit mir meint. Wenn ich den Schmerz durchlebt habe, bin ich wieder lebendiger, kann mich wieder fühlen. Nach der Trauerseite schlage ich die Möglichkeitsseite auf, aus dem Blick zurück wird der Blick nach vorn.
SPIEGEL ONLINE: Welche Art von Trennungen haben Sie erlebt?
Jellouschek: Meine zweite Ehefrau ist gestorben, meine erste Ehefrau und ich haben uns scheiden lassen. Bei einer Scheidung spielen meist gegenseitige Verletzungen aus der Vergangenheit eine große Rolle. In dem Prozess ist das Verzeihen ganz wichtig. Vergebung ist ein Willensakt, den ich möglicherweise öfter vollziehen muss. Es geht mir umso besser, je weniger ich dem anderen nachtrage. Ich hege dann keine Ansprüche mehr, die Sache ist komplett erledigt.
SPIEGEL ONLINE: Worauf sollten getrennte Partner mit Kindern achten?
Jellouschek: Sie sollten sich klarwerden, dass Elternschaft und Liebesbeziehung zwei verschiedene Dinge sind. Für die gemeinsamen Kinder bleiben sie die gemeinsamen Eltern. Die Paarbeziehung ist vorbei, die Elternschaft bleibt. Beide tragen Verantwortung für die Kinder. Wenn wir uns auf Paarebene losgelassen haben, wird es leichter, gemeinsam für die Kinder zu sorgen.
SPIEGEL ONLINE: Hat sich hier gesellschaftlich etwas verändert?
Jellouschek: Dass beide Elternteile für die Kinder Verantwortung tragen, ist heute viel stärker im Bewusstsein verankert und selbstverständlich. Auch machen Ex-Partner einander heute vor den Kindern weniger schlecht. Davon profitieren alle.
SPIEGEL ONLINE: Wie machen Sie Menschen Mut, die gerade durch eine Scheidung gehen?
Jellouschek: So schmerzhaft jede Trennung ist: Irgendwann merke ich, dass die Sicherheit der „gobischen Wüste“, so nenne ich die lieblos gewordene alte Beziehung, nicht mehr gebraucht wird. Und ich erkenne umrisshaft ein neues gelobtes Land – mit mehr Fülle, mehr Liebe und neuer Lebendigkeit. Das ist der Neubeginn.
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