Menschen mit schweren Migräne können bald mit Erlösung von ihrer Qual rechnen. Eine Antikörper-Spritze, die in den USA schon zugelassen ist, soll im Herbst auch bei uns erhältlich sein. Experten sprechen von einer echten Therapie-Revolution.
Pulsierend-pochenden Schmerzen im Kopf, Übelkeit, Schwindel, Lichtempfindlichkeit und grippeähnliche Symptome, bis zu 72 Stunden lang – so sieht Migräne für Millionen Menschen in Deutschland aus. Manche werden nur sporadisch von der Krankheit gequält, die nichts mit „normalen“ Kopfschmerzen zu tun hat. Andere leiden 15 bis 20 Tage im Monat unter den Attacken. Und, besonders schlimm, vielen helfen die Standard-Medikamente kaum. Ihnen vor allem macht eine neue Therapie Hoffnung, die nun jeden Tag näher rückt: eine Antikörper-Spritze, einmal im Monat unter die Haut verabreicht, soll Migräne-Attacken im Ansatz ersticken.
Antikörper Erenumab steht vor der Zulassung
Von vier ganz ähnlich wirkenden Substanzen, die sich in klinischen Tests als effektiv erwiesen haben, hat einer fast alle Hürden der Zulassung genommen: Der Antikörper Erenumab ist unter dem Markennamen „Aimovig“ in den USA bereits auf dem Markt. Die Europäische Arzneimittelbehörde Ema hat ihre Empfehlung zur Zulassung bereits gegeben und mit einer positiven Entscheidung der Europäischen Kommission wird spätestens Mitte September gerechnet. Die allgemeine Verfügbarkeit in Deutschland peilt Hersteller Novartis im Spätherbst an.
„So eine Markteinführung ist komplex“, sagt eine Unternehmenssprecherin. Dazu gehört auch, den Preis für das neue Medikament auszuhandeln. „Er liegt für einen Antikörper sicher deutlich höher als für alle bisher zur Migräne-Vorbeugung verfügbaren Wirkstoffe. Eine Zahl wäre aber im Moment reine Spekulation.“ Auch die in den USA fälligen 6.900 Dollar (knapp 6000 Euro) pro Jahr wären kein Maßstab für Deutschland.
Neue Ära der Migränetherapie
Schon während der klinischen Testphase zeigten sich Experten beeindruckt. Die vorbeugende Spritze gegen die Schmerzen sei ein „neuer Schritt in der Menschheitsgeschichte“, sagte etwa Ende 2017 Professor Hartmut Göbel, Chefarzt und Leiter der Schmerzklinik Kiel, gegenüber der „Welt am Sonntag“ sicher. „Zehn Jahre lang war es ruhig in der Forschung, aber jetzt ist wirklich viel zu erwarten“, so der Migräne-Experte weiter.
Ende November 2017 haben die Forscher die letzten Ergebnisse zu zwei an 2000 Probanden getesteten Wirkstoffen im „New England Journal of Medicine“ vorgestellt. Erenumab wurde Betroffenen mit episodischer Migräne (Menschen, die zwar regelmäßig, aber an weniger als 15 Tagen an Attacken leiden) verabreicht. Der Antikörper Fremazumab wurde Patienten mit chronischer Migräne injiziert. Für diesen Wirkstoff gibt es aber noch keine Zulassungsbemühungen.
- Migräne: Was gegen den Kopfschmerz hilft
Eingriff in den Migräne-Mechanismus
Das Besondere an den neuen Wirkstoffen ist, dass sie erstmals direkt in den Mechanismus der Krankheit eingreifen, nicht nur Symptome bekämpfen. Der Erfolg wurde möglich, weil man den Mechanismus von Migräne inzwischen besser verstehe: Der Hypothalamus spielt in der Migräne-Entstehung eine tragende Rolle. In diesem Bereich des Zwischenhirns wird das vegetative Nervensystem gesteuert.
Die Studie zeigte, dass der Hypothalamus etwa 24 Stunden vor einer Migräne-Attacke starke Aktivität aufzeigte. Wenn die Anfälle dann einsetzten, konnte auf den Bildern des Magnetresonanztomographen (MRT) erkannt werden, dass sich der Hypothalamus verstärkt mit dem Ursprungspunkt eines der wichtigsten Nervens des Hirns, des Trigenimus-Nervs verband.
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Antikörper schalten das Migräne-Peptid CGRP aus
An diesem Ursprungspunkt des Nervs sammelt sich der sogenannte CGRP-Stoff an, ein Schlüsselbegriff in der Migräneforschung. Dieses Neuropeptid – in der Fachsprache Calcitonin gene-related petide genannt – kann Blutgefäße stark weiten, was zu Schmerzen führt. Leiden Patienten an chronischer Migräne, ist in ihrem Blut ein dauerhaft erhöhter CGRP-Spiegel nachweisbar.
Die neuen Wirkstoffe sollen genau diesen Stoff bekämpfen, wie Schmerzmediziner Göbel erklärte: „Der eine Antikörper blockiert die Rezeptoren für CGRP, also sozusagen die Signalempfänger, der andere die Überträgerstoffe“. Erenumab setzt direkt an den Rezeptoren an.
Keine Nebenwirkungen zu befürchten
Die Ergebnisse der Studie: Wenn die Injektionen monatlich verabreicht wurden, wirkten sie bei 41 Prozent der Probanden mit chronischer Migräne. Sie hatten in der Folge nur noch halb so viele oder gar noch weniger Schmerztage pro Monat. Bei den von episodischer Migräne Betroffenen konnten die Spritzen zu deutlich weniger Schmerztagen führen.
Im Gegensatz zu anderen Migränemitteln wie den sogenannten Triptanen, Betablockern oder Antidepressiva zeigten die Antikörper-Spritzen keine Nebenwirkungen im Zentralnervensystem. Auch langfristig haben die Antikörper offenbar keine schweren Nebenwirkungen. Auf dem Kopfschmerzkongress in San Francisco wurden Ende Juni 2018 Ergebnisse vorgestellt, dass sich die Nebenwirkungen für die bald verfügbare Migräne-Spritze im Placebobereich befanden.
Spritze ersetzt nicht Vorsichtsmaßnahmen der Patienten
Bei aller Vorfreude auf die Spritze gegen Migräne, warnt Professor Göbel vor einem Trugschluss: „Sie könnten den Patienten das Gefühl geben: Dann muss ich ja gar nichts mehr machen“. Das sei jedoch ein Irrglaube.
Migräne-Patienten dürften laut Göbel nicht vergessen, dass ihr Gehirn trotz der Spritzen besonders sensibel und anfällig für Reize sei. Strömen die zu schnell und zu intensiv durch das Nervensystem, würden Zellen geschwächt werden – und dagegen könnte auch die neuen Wirkstoffe nicht ausreichend ankämpfen.
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