Corona-Lage in Großbritannien spitzt sich zu: Aus 2 Gründen ist das ein Warnschuss

100 Tage nach dem „Freedom Day“ hat Großbritannien eine der höchsten Infektionsraten weltweit. Auch die Zahl der Krankenhaus- und Todesfälle steigt wieder. Experten fordern die Rückkehr von Corona-Maßnahmen – doch die Regierung stellt auf Durchzug.

"Vorsichtig, aber unumkehrbar" – so hatte der britische Premierminister Boris Johnson die schrittweise Aufhebung der Corona-Maßnahmen in England angekündigt. Am 19. Juli war es soweit. Im größten britischen Landesteil fielen die letzten Pandemie-Regeln wie Abstand halten und Maskentragen. Junge Nachtschwärmer feierten den "Freedom Day" ausgelassen in den Diskotheken des Landes. Doch 100 Tage später ist vielen nicht mehr zum Feiern zumute.

Großbritannien hat inzwischen eine der höchsten Infektionsraten weltweit. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei etwa 485, Tendenz steigend. Die als Impfwunder gefeierte Kampagne – die zu Beginn viel schneller anlief als in vielen EU-Ländern – gerät bei den Auffrischungsimpfungen für Ältere und den Jugendlichen ins Stocken.

Britische Kliniken sind bereits wieder "am Limit"

Zuletzt kletterte die Zahl der registrierten Neuinfektionen in 24 Stunden auf beinahe 50.000. Die Zahl der täglichen Krankenhauseinweisungen liegt bei mehr als 1000. Täglich werden Dutzende Corona-Tote gemeldet. Eine neue, womöglich geringfügig ansteckendere Variante des Virus, die sich in Großbritannien ausbreitet, gilt hingegen bislang als wenig besorgniserregend.

Neue Delta-Variante AY4.2 bereits im Juli in Deutschland nachgewiesen

FOCUS Online/Wochit Neue Delta-Variante AY4.2 bereits im Juli in Deutschland nachgewiesen

Beim Parteitag seiner Konservativen in Manchester Anfang Oktober ließ sich Johnson noch dafür feiern, dass man "seit Monaten eine der offensten Wirtschaften und Gesellschaften" habe. Doch Experten und Mediziner warnen inzwischen davor, dass der Abbau des während der Pandemie entstandenen Rückstaus an Krankenhausbehandlungen in Gefahr gebracht werden könnte.

"Wir sind am Limit, und es ist Mitte Oktober. Es würde unglaublich viel Glück brauchen, damit wir uns in drei Monaten nicht in einer schweren Krise wiederfinden", sagte der Geschäftsführer des Verbands der Trägerorganisationen des Nationalen Gesundheitsdiensts NHS, Matthew Taylor, dem "Guardian". Der Ärzteverband BMA (British Medical Association) bezichtigte die Regierung, sogar "bewusst fahrlässig" zu handeln.

Ärzte schlagen Alarm, wollen Masken- und Nachweispflicht zurück

Taylor fordert wie viele andere, dass die Regierung ihren vor einigen Wochen angekündigten Plan B nun ins Spiel bringt – das würde zum Beispiel eine Wiedereinführung der Maskenpflicht in überfüllten Räumen und die Pflicht zum Vorzeigen von Impfpässen bei Großveranstaltungen bedeuten.

Auch BMA-Chef Chaand Nagpaul forderte die sofortige Wiedereinführung von Corona-Maßnahmen. Die Regierung habe versprochen, Plan B zu ergreifen, wenn der Nationale Gesundheitsdienst NHS in Gefahr sei, überwältigt zu werden. "Als Ärzte, die in erster Reihe stehen, können wir absolut sagen, dass dieser Punkt jetzt erreicht ist", so Nagpaul einer Mitteilung zufolge.

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    Doch die Regierung will ihr Versprechen von der großen Freiheit noch nicht zurücknehmen. Noch sei es nicht an der Zeit für Plan B, sagte Gesundheitsminister Sajid Javid jüngst. Zwar warnte er, die Zahl der täglichen Neuinfektionen könne schon bald auf bis zu 100.000 steigen. Stattdessen sollten die Menschen verstärkt dazu aufgerufen werden, sich impfen zu lassen. Freudig verkündete Javid, mehr als sechs Millionen Menschen hätten bereits eine Auffrischungsimpfung erhalten.

    Wie das Online-Portal "Politico" berichtete, könnte das Kurshalten der Regierung auch finanzielle Gründe haben. Interne Dokumente, aus denen das Portal am Dienstag zitierte, geben den Schaden für die britische Wirtschaft durch einen fünfmonatigen Plan B mit Maskenpflicht und Homeoffice mit bis zu 18 Milliarden Pfund (21,4 Mrd Euro) an.

    Warum die Zahlen in Großbritannien so stark steigen

    Warum Großbritannien erneut zum Sorgenkind in der Pandemie zu werden droht, dürfte verschiedene Gründe haben. Womöglich wird den Briten ihr Impfwunder nun teilweise zum Verhängnis, weil die Wirkung bei vielen bereits nachlässt, wie ein Datenjournalist der "Financial Times" (FT) mutmaßt. Ein Effekt, der sich auch in Israel gezeigt hatte.

    Ein Vergleich der Statistiken verschiedener Länder zeige auch, dass die völlig uneingeschränkten Menschenansammlungen in Innenräumen einen großen Anteil haben dürften, so "FT"-Journalist John Burn-Murdoch auf Twitter.

    Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch der Epidemiologe Neil Ferguson vom Imperial College in London. Er blickt vor allem mit Sorge auf die besonders hohen Infektionsraten unter Jugendlichen. Die 12- bis 15-Jährige in England werden bislang nur einmal geimpft, und die Impfrate ist niedrig. Er fordert daher eine Zweitimpfung für Jugendliche und eine Beschleunigung der Impfkampagne insgesamt.

    Spahn will Notlage-Regel nicht mehr verlängern

    In Deutschland ist man von britischen Verhältnissen noch weit entfernt. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei etwa 110. Gesundheitsminister Jens Spahn will die sogenannte "epidemische Lage nationaler Tragweite" – die rechtliche Grundlage für Verordnungen und zentrale Corona-Maßnahmen – Ende November auslaufen lassen.

    Das ist zwar kein "Freedom Day", weil Maßnahmen wie Abstands- und Hygieneregeln bleiben, doch es gibt bereits Warnungen, dass dieser Eindruck in der Bevölkerung entstehen könnte. Ob das wünschenswert ist, dürfte angesichts der britischen Erfahrung in Zweifel gezogen werden. "Das ist ein Signal, das von der Bevölkerung als Freedom Day durch die Hintertür missverstanden werden kann", sagte etwa Uwe Janssens, ehemaliger Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi).

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    Auch der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) hat sich deutlich gegen ein Ende der epidemischen Lage in Deutschland ausgesprochen. "Wir raten dringend davon ab", sagte Präsident Bernd Meurer dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "In manchen Landkreisen liegen die Inzidenzen bei den über 80-Jährigen bereits wieder zwischen 100 und 250." Meurer forderte angesichts dieser Situation zum Schutz dieser besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppe eine Verlängerung der entsprechenden Regelungen. "Alles andere halten wir für unverantwortlich."

    Anders hatte sich etwa der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) geäußert: "Ich kann den Schritt nachvollziehen und halte das auch für unproblematisch."

    Warum das Großbritannien-Beispiel ein Warnschuss ist

    Vor allem aus zwei Gründen kann die Entwicklung in Großbritannien jedoch als Warnschuss gesehen werden: Ähnlich wie auf der Insel sind bei uns bisher weniger als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen ab zwölf Jahren geimpft. Eine starke Verbreitung des Virus ist angesichts gefallener Maskenpflicht in vielen Bundesländern und der Tatsache, dass regelmäßiges Lüften in Herbst und Winter immer schwerer fällt, sehr wahrscheinlich.

    Zudem liegt die Impfung bei vielen Deutschen inzwischen ebenfalls mehr als sechs Monaten her. Eine Abnahme der Wirksamkeit zumindest bei Älteren und Vorerkrankten ist also anzunehmen. Die Stiko empfiehlt daher inzwischen eine dritte auffrischende Dosis für diese Gruppen. Beides trägt dazu bei, dass die Infektionszahlen im kommenden Herbst und Winter weiter steigen werden.

    Wie hohe Zahlen Politik und Gesellschaft bei uns zulassen wollen, bleibt zu klären. Das Beispiel Großbritannien zeigt allerdings, dass zwar durchaus deutlich höhere Inzidenzen als noch im vergangenen Jahr möglich sind, ohne dass die Grenzen des Gesundheitssystems erreicht werden. Aber auch wenn ein Großteil der Bevölkerung geimpft und damit von einem schweren Verlauf geschützt ist, kann sich die Corona-Lage in den Krankenhäusern innerhalb weniger Wochen wieder in den roten Bereich bewegen – insbesondere dann, wenn auf sämtliche Maßnahmen verzichtet würde.

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