Deutschland steht am Scheideweg: Die Sehnsucht nach Lockerungen ist groß, doch die Virus-Mutanten verbreiten sich rasant. Ein Blick in drei andere europäische Länder könnte Aufschluss darüber geben, was hierzulande bald auf uns zukommt.
In den vergangenen Wochen haben sich Bund und Länder immer wieder auf neue Grenzwerte festgelegt: erst 50, dann 35 und nun 100. In Brandenburg ist am Montag eine neue Corona-Verordnung in Kraft getreten, nachdem die Notbremse gar erst eintritt, wenn die 7-Tage-Inzidenz einen Wert von 200 erreicht.
Virologin Brinkmann: Aktuelle Corona-Politik "keine Perspektive"
Ergibt das Sinn? Nein, sagt die Virologin Melanie Brinkmann. „Was uns gerade präsentiert wird, ist eine intellektuelle Beleidigung an alle und keine Perspektive“, sagte die Forscherin der TU Braunschweig dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ am Dienstag. Julian Stratenschulte/dpa
„Wir lockern jetzt bei zu hoher Inzidenz, haben aber keine Folge-Strategie um eine dritte Welle zu verhindern.“ Grund zur Sorge seien vor allem die Virus-Mutationen, die sich noch rasanter ausbreiten als das ursprüngliche Coronavirus.
Lauterbach: „Wahrscheinlichkeit einer dritten Welle überwältigend groß“
Auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach wird nicht müde davor zu warnen, dass die "Wahrscheinlichkeit einer dritten Welle überwältigend groß" sei. Auf Twitter schrieb er am Montag (8. März), man müsse jetzt die Teststrategie in Schulen und Betrieben bis zur Impfung intensiv verfolgen. Ansonsten bleibe "in Kürze nur der Lockdown". dpa/Michael Kappeler/dpabild Karl Lauterbach, SPD-Gesundheitsexperte, geht mit Maske im Deutschen Bundestag.
Seinem Tweet fügt der Politiker Prognosen von Forschern hinzu, wie sich die Fallzahlen in Deutschland bis Anfang April entwickeln werden. Das Ergebnis ist eindeutig: „Alle bis auf einen sehen steigende Fallzahlen vorher.“
Diese drei Szenarien könnten Deutschland jetzt drohen
Wie also geht es in Deutschland weiter? Bewahrheiten sich die Prognosen der Experten, könnte die Sieben-Tage-Inzidenz bundesweit bereits in den kommenden ein bis drei Wochen die Grenze von 100 erreichen. Bund und Länder müssten dann die Notbremse ziehen. Lockerungen würden dann wieder zurückgenommen werden – es sei denn, die Politik würde sich auf wieder neue Grenzwerte einigen.
Ein Blick auf die Situation in den Ländern Österreich, Frankreich oder Italien zeigt: Der Umgang mit der Corona-Pandemie gleicht vielerorts einer Achterbahnfahrt. Drei Szenarien könnten so auch auf Deutschland zukommen.
Österreich: „Das werden viele mit dem Leben bezahlen“
Österreichs Gesundheitsministers Rudolf Anschober (Grüne) hat die Corona-Prognosen für das Land als alarmierend bezeichnet. "Das Ruder zeigt leider in die falsche Richtung", sagte Anschober vergangenen Donnerstag in Wien.
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Das Nachbarland hatte seine Maßnahmen Anfang Februar bei einer Sieben-Tage-Inzidenz bei etwa 100 gelockert. Kanzler Sebastian Kurz begründete diesen Schritt damit, dass "der Lockdown nach sechs Wochen seine Wirkung verloren hat". Immer weniger Bürger hätten sich laut Kurz an die Regeln gehalten, was für ihn nur einen logischen Schluss zulässt. "Ein Lockdown, wo keiner mitmacht, der hat natürlich auch wenig Sinn."
dpa/Helmut Fohringer/APA/dpa „Sollten nicht mehr nur von der EU abhängig sein bei der Produktion von Impfungen der zweiten Generation“: Bundeskanzler Sebastian Kurz.
Nun steuert Österreich wieder auf eine Marke von 200 zu. In der Alpenrepublik sind die Geschäfte seit etwas mehr als einem Monat unter Auflagen wieder geöffnet, auch Schulen laufen vielerorts im Regelbetrieb. Restaurants dürfen Essen derzeit nur zum Mitnehmen anbieten.
Geplant ist, die Außenbereiche der Gastronomie am 15. März wieder zu öffnen. Private Treffen sind derzeit auf zwei Haushalte beschränkt. Zwischen 20.00 und 6.00 Uhr gelten zwar Ausgangsbeschränkungen, Spazierengehen ist in dieser Zeitspanne jedoch dennoch erlaubt.
Herbert Pfarrhofer/APA/dpa Demonstranten am 06.März bei einer Kundgebung gegen die Corona-Maßnahmen in Wien.
Bis zum 17. März sagen die Forscher einen spürbaren Anstieg der mit Covid-Patienten belegten Klinikbetten voraus. Eine Überlastung der Intensivstationen drohe aber nicht. Die Steigerung gehe auf die ansteckendere britische Virus-Variante zurück. dpa/Jakob Gruber/APA/dpabild Ein Ortsschild steht am Ausgang der Ortschaft Ischgl.
Besonders besorgniserregend ist die Situation derzeit im Ort Wiener Neustadt. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt dort aktuell bei 536. Bei einem Wert von 400 müssen Regionen in Österreich eine Testpflicht bei Ausreise einführen. Die 45.000 Einwohnerstadt ist die erste größere Kommune in Österreich, für die wegen der hohen Zahl an Corona-Infektionen eine Testpflicht bei Ausreise besteht. Sorgenkind ist auch das Bundesland Salzburg mit einem Inzidenzwert von 236.
Karl Lauterbach kritisiert Österreichs Umgang mit der Corona-Pandemie. Der SPD-Gesundheitsexperte twitterte vor einer Woche: "Österreich lockert in die B.1.1.7 Welle hinein."Weiter gab er eine düstere Prognose ab: "Das werden dort viele mit dem Leben bezahlen, wenn man es ehrlich beschreiben darf. Zum Schluss wird dann wieder ein Lockdown kommen, für den sich die Verstorbenen nichts kaufen können. Kein Beispiel für uns."
Ian Langsdon/EPA POOL/AP/dpa Jean Castex, Premierminister von Frankreich
"Es gibt einen Horizont mit Impfungen. Wir beginnen, die Auswirkungen der Impfung auf die Epidemie zu sehen", so Attal weiter. Die Rückkehr zu einem normaleren Leben und Öffnungen seien in Sicht. Aktuell sei die Lage aber "besorgniserregend", auch wenn es keinen explosionsartigen Anstieg der Fälle gebe. dpa/Elko Hirsch/dpa Der Louvre ist geschlossen, der Platz davor ist leer. Nur drei Polizisten gehen an einer Absperrung entlang.
Premier Jean Castex hatte in der vergangenen Woche eine erhöhte Corona-Warnstufe für 20 Départements ausgerufen, darunter auch Paris. Die örtlichen Behörden sind aufgerufen, verschärfte Maßnahmen zu prüfen und der Regierung vorzuschlagen.
In Nord- und Südfrankreich gelten wegen der steigenden Zahlen von Covid-19-Patienten zusätzliche Wochenend-Lockdowns. Dort dürfen Anwohner ihre Häuser von Freitag 18.00 Uhr bis Montag 06.00 Uhr nur mit triftigem Grund verlassen – und sich dabei möglichst nur in einem Umkreis von fünf Kilometern bewegen. Valery Hache/AFP/dpa Nizza: Französische Polizisten kontrollieren die geschlossene Promenade des Anglais am Vorabend der coronabedingten Wochenendabriegelung.
Frankreich hatte zunächst einen extrem langsamen Impfstart hingelegt. Nach heftiger Kritik zog die Regierung das Tempo an. Frankreich hat mehr als 88.000 Tote in Verbindung mit Corona registriert. Zuletzt infizierten sich binnen einer Woche rund 217 Menschen pro 100.000 Einwohner mit dem Coronavirus. Frankreich setzt massiv auf Tests – pro Woche zählt das Land mehr als zwei Millionen Corona-Tests.
Italien: Lockdown, Lockerung, Lockdown, Lockerung
Italien setzt seit Herbst auf ein Ampelsystem. Dieses teilt einzelne Gebiete in Risikozonen ein. Je nachdem, wie stark sich das Virus dort verbreitet, kommt es zu Lockerungen oder Verschärfungen. Zuletzt ist vielerorts zweiteres der Fall: Das Land kämpft gerade gegen wieder deutlich steigende Infektionszahlen trotz Impfungen.
Am Montag wurde offiziell die Schwelle von 100.000 Corona-Toten überschritten. Innerhalb von 24 Stunden starben weitere 318 Menschen nachweislich mit oder an dem Virus. Die Regierung verschärfte als Reaktion darauf für mehrere der 20 Regionen die Corona-Beschränkungen. dpa/Claudio Furlan/LaPresse via ZUMA Press/dpa Ältere Menschen warten im Militärkrankenhaus von Baggio nahe Mailand auf eine Covid-19-Impfung.
Die Urlaubsregion Kampanien im Süden wurde als drittes Bundesland zur Roten Zone erklärt, in der die Menschen möglichst zu Hause bleiben sollen. Immer mehr Schulen werden wieder geschlossen. Restaurants in stark betroffenen Gebieten dürfen nicht mehr öffnen. Die täglichen Totenzahlen gelten als vergleichsweise hoch. Cecilia Fabiano/LaPresse via ZUM
Die Zeitung "La Repubblica" zitierte Fachleute mit der Vermutung, dass Italiens Impfstrategie mitverantwortlich sein könnte, dass die Opferzahlen noch nicht sinken. Rom hatte zu Beginn einen Schwerpunkt auf medizinisches Personal gelegt.
Obwohl Italien eine der ältesten Bevölkerungen international hat, wurden Hochbetagte dahinter eingruppiert. Seit Ende Dezember wurden rund 5,4 Millionen Dosen Impfstoff gespritzt. 2,5 Millionen davon erhielten Beschäftigte im Gesundheitswesen.
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