Warum Covid-19 manche Erkrankte schwerer trifft als andere, ist nach wie vor ein Rätsel. Eine entscheidende Rolle dabei könnte das Immunsystem spielen. Deutsche Wissenschaftler zeigen, welches Chaos das Virus darin anrichten kann.
Bereits im April stellte eine internationale Forschergruppe um Carly Ziegler von der Harvard Medical School in Massachusetts fest, dass das Immunsystem beim Verlauf einer Erkrankung mit Covid-19 eine entscheidende Rolle spielt. Die Forscher beschrieben in ihrer im Fachjournal „Cell“ veröffentlichten Studie, wie das Virus mit Hilfe sogenannter ACE2-Rezeptoren, die es kapert, das Immunsystem komplett aus der Bahn wirft.
Coronavirus kapert Rezeptoren, zwingt sie zur Replikation und vermehrt sich so unendlich
Normalerweise ist ACE2 an der Regulierung des Blutdrucks beteiligt. Doch im Fall von Covid-19 fungiert es als Einfallstor für Sars-CoV-2 in seine Zielzellen. Der Erreger bindet sich mit seinem „Stachelmolekül“ an den Rezeptor, spaltet die Hülle der Zelle und dringt in sie ein. Nun kapert er das Erbgut der Zelle und zwingt es, unzählige Virus-Kopien zu produzieren.
Dieser Mechanismus setzt, wie sich zeigte, einen Teufelskreis in Gang: In den befallenen Geweben wird Interferon ausgeschüttet, was wiederum die Produktion von ACE2 stimuliert. Nun stehen dem Virus mehr Rezeptoren zur Verfügung, sodass es seinen Angriff intensivieren und auch mehr Zellen befallen kann.
Molekül verhindert, dass Blutgefäße durchlässig werden
Als wäre das nicht schon perfide genug, greift Sars-CoV-2 mittels ACE2 noch an einer zweiten Front an. Der Rezeptor trägt nicht nur dazu bei, den Blutdruck zu stabilisieren, sondern verhindert auch, dass Blutgefäße durchlässig werden. Beides ist für eine normale Funktion der Lunge unabdingbar.
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Auch ein deutsches Wissenschaftlerteam vom Berlin Institute of Health (BIH), der Charité Berlin sowie weiteren Forschern aus Leipzig und Heidelberg hat unlängst gezeigt, dass das Immunsystem den Verlauf von Covid-19 entscheidend beeinflusst. Sie beobachteten, dass die vom Virus befallenen Epithelzellen „das Immunsystem zu Hilfe rufen“. Doch die daraufhin einwandernden Immunzellen schießen gelegentlich über das Ziel hinaus und richten mit ihrer übersteigerten Reaktion teilweise größeren Schaden an als das Virus selbst. Ihre Ergebnisse haben die Forscher im Fachjournal „Nature Biotechnology“ beschrieben.
Jede Zelle zeigt eine andere Reaktion
Roland Eils, Gründungsdirektor des Digital Health Center des BIH und sein Team setzten dabei auf sogenannte Einzelzellanalysen, um jede einzelne Zelle, die aus den Atemwegen von Covid-19 Patienten gewonnen wurde, untersuchen zu können. Denn jede Zelle reagiert anders auf die Infektion und liefert individuelle Informationen zum Krankheitsgeschehen, abzulesen an der individuellen Antwort tausender Gene in jeder Zelle.
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Insgesamt wurden Proben von 19 Covid-19-Patienten und von fünf gesunden Kontrollprobanden untersucht. Acht der Covid-19-Patienten zeigten einen eher moderaten, elf einen kritischen Krankheitsverlauf. „Die Proben stammten aus dem Nasen-Rachenraum, von zwei Patienten zusätzlich aus den Bronchien. Von fünf Patienten konnten wir mehrmals Proben gewinnen, so dass wir die Möglichkeit hatten, den Verlauf der Erkrankung im selben Patienten zu verfolgen“, berichtet Leif-Erik Sander, der an der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie der Charité die Covid-19-Patienten behandelte.
Mehr als 160.000 Zellen sequenziert: Sars-CoV-2 heftet sich an ACE2-Rezeptoren
„Aus dem Probenmaterial haben wir im S3-Labor des Instituts für Virologie der Charité unter höchsten Sicherheitsbedingungen Zellen isoliert und insgesamt 160.528 Zellen sequenziert“, erklären Robert Lorenz Chua und Soeren Lukassen vom Digital Health Center des BIH. „In den Proben fanden wir neben Immunzellen vor allem Zellen aus der obersten Schicht der Atemwege, also verschiedene Epithelzellen. Aus diesen haben wir die RNA isoliert, die das Viruserbgut enthält, aber auch die Abschriften der aktiven Gene der menschlichen Zellen. Basierend auf diesen Daten und klinischen Informationen konnten wir den Ablauf der Infektion auf Einzelzellebene präzise nachvollziehen.“
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Auch die deutschen Wissenschaftler stellten fest, dass Sars-CoV-2 in die Zellen gelangt, indem es sich an deren ACE2-Rezeptor heftet. „Wir haben gesehen, dass der ACE2-Rezeptor in den Epithelzellen der Covid-19-Patienten doppelt bis dreimal so stark exprimiert ist wie in den Epithelzellen der nicht-infizierten Kontroll-Probanden“, erklärt Christian Conrad, einer der Autoren der Studie.
Die infizierten Zellen senden daraufhin einen „Hilferuf“ an das Immunsystem und locken Immunzellen an, die helfen, die Infektion zu bekämpfen, indem sie die infizierten Epithelzellen gezielt abtöten und das Virus neutralisieren.
Unheilvolle Allianz zwischen Coronavirus und Immunsystem
Der Immunbotenstoff Interferon, der eigentlich eine zentrale Abwehrstrategie des Immunsystems gegen Virusinfektionen ist, trägt im Fall von Covid-19 dazu bei, dass die Epithelzellen mehr ACE2 bilden und damit verwundbarer für eine Virusinfektion werden, erklärt Immunologin und Leiterin der Arbeitsgruppe Molekulare Epidemiologie am BIH Irina Lehmann: „Im Fall von Covid-19 hilft das Immunsystem so dem Virus, weitere Zellen zu infizieren und verstärkt somit die Erkrankung.“ Außerdem beobachteten die Wissenschaftler, dass insbesondere bei schwer erkrankten Patienten die Immunzellen mit einer überschießenden Entzündung reagieren.
„Die Einzelzell-Analysen haben sehr deutlich gezeigt, dass das Virus eine unheilvolle Allianz mit dem Immunsystem des Patienten eingeht“, erklärt Roland Eils. „Speziell bei schwer erkrankten Patienten haben wir beobachtet, dass das überreagierende Immunsystem die Zerstörung des Lungengewebes vorantreibt. Das könnte erklären, warum diese Patienten stärker von der Infektion betroffen sind als Patienten, bei denen das Immunsystem angemessen reagiert.“ Warum das Immunsystem allerdings bei manchen Patienten so sehr aus dem Ruder läuft und bei anderen nicht, bleibt auch in dieser Studie offen.
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Ergebnisse als Ansatz für potentielle Therapien gegen Covid-19
Leif-Erik Sander ergänzt: „Diese Ergebnisse legen nahe, unsere Behandlungen bei Covid-19-Patienten nicht nur gegen das Virus selbst zu richten, sondern auch Therapien in Betracht zu ziehen, die das Immunsystem in seine Schranken weisen, wie dies z.B. jetzt mit Dexamethason geschieht. Möglicherweise sogar bereits zu Beginn der Erkrankung, um ein Überschießen des Immunsystems zu verhindern.“
Schon bevor die ersten Covid-19 Patienten in der Charité versorgt wurden, haben Roland Eils und Irina Lehmann diese Studie initiiert, um die molekularen und zellulären Ursachen von Covid-19 zu erforschen. „Wir haben vermutet, dass bei den unterschiedlichen Krankheitsverläufen das körpereigene Immunsystem eine Rolle spielt. Und das wollten wir gern genauer verstehen“, sagt Irina Lehmann.
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