Es hat schon etwas von Partystimmung. Junge Menschen, die am Boden sitzen, liegen oder irgendetwas dazwischen. Getränkedosen auf dem Fenstersims, geöffnete Chips- und Gummibärchentüten, Schokoriegel, Decken, Kissen, lange Mädchenhaare und Tatoos auf Unter- und Oberarmen. Was fehlt, ist die laute Musik, die so ein Szenario normalerweise begleiten würde, und das muss auch so sein, denn hier ist niemand ausgelassen und fröhlich.
In Wahrheit herrscht eine Anspannung, die man neben der Erschöpfung auf den Gesichtern sieht. In Wahrheit ist die Party auch keine. Der Schauplatz ist ein Mehrbettzimmer im Klinikum Großhadern, und die jungen Frauen und Männer sind hier, weil Sabina schon seit acht Stunden darauf hinfiebert, dass sich die Tür zu ihrem Zimmer endlich, endlich öffnen möge und ein Arzt ihr sagen wird, dass das passieren wird, worauf sie seit vier Jahren wartet. Sabina Pohl hat Mukoviszidose, und wenn ihr heute keine neue Lunge transplantiert wird, dann wird sie nicht mehr lange leben können.
Zehn Stunden dauerte die Operation
Weil ein Fernsehteam Sabina begleitet hat in jener Nacht der Nächte im Mai vergangenen Jahres, kann man sich das heute alles anschauen und fühlt sich wie ein Augenzeuge. Sabina selbst hat das Video noch nicht richtig ansehen können. „Das packe ich einfach nicht“, sagt sie. Weitere Erklärungen gibt sie nicht, und die sind auch nicht nötig.
Heute sitze ich einer Frau gegenüber, der man – man würde lügen, wenn man etwas anderes behaupten würde – die Strapazen eines ganzen Lebens mit einer verheerenden Krankheit ansieht, deren Höhepunkt in jener Nacht im Mai erreicht war. Zehn Stunden hat die Operation gedauert, zehn Stunden, in denen die Ärzte Sabinas kaputte Lunge entfernt und durch ein Spenderorgan ersetzt haben.
„Ich habe gezittert und sofort zu Weinen angefangen“
Vier Jahre hatte die junge Frau darauf gewartet, stand auf der Transplantations-Liste, und es war ein Freitagabend gegen 22 Uhr, als der Anruf kam, mit dem sie in diesem Moment kein bisschen gerechnet hatte. „Ich war bei einer Freundin. Wir haben ,Let's dance‘ im Fernsehen angeschaut“, erinnert sich Sabina. Die Frau mit unbekannter Handynummer habe nicht viel gesagt. Das Transplantationszentrum hätte eine Lunge für Sabina, in einer Stunde würde ein Sanitäter kommen, um sie abzuholen.
„Ich habe gezittert und sofort zu Weinen angefangen“, berichtet die 33-Jährige. Trotz des unbeschreiblichen Chaos, das die Nachricht in Sabinas komplett überfordertem Gehirn ausgelöst hat, funktionierte der äußere Ablauf reibungslos, so dass Sabina, die im Münchner Stadtteil Solln lebt, rechtzeitig in Großhadern eingetroffen ist.
Mit an Bord ihr Ehemann Markus, ihre Schwester Lisa und bestens ausgerüstet alle Freunde, für die klar war, dass sie ihre Sabina in diesen Stunden nicht alleinlassen würden. Sabinas Eltern, so hatte man entschieden, waren zuhause geblieben, um dort auf Sabinas Labradorhündin Hellen aufzupassen, nicht ohne natürlich ständig in Kontakt mit ihrem Mädchen zu bleiben.
Draußen ist es bereits wieder hell, drinnen herrscht eine Mischung aus Dösigkeit und Nervenanspannung, als endlich die Türe aufgeht und ein Arzt hereinkommt, der ohne Umschweife mitteilt: „Die Lunge ist in Ordnung.“ Sabina werde nun gleich in den OP geschoben.
Mit weit aufgerissenen Augen, auf ihrem Bett zusammengesunken, hört die junge Frau die Worte, die ihr alles bedeuten. Und weil dann auf einmal alles so schnell geht, sagt sie abwechselnd ,Ja‘ und ,Danke‘, und man kann sich ausmalen, wie in ihrem Kopf die Gedankenfetzen wirbeln, weil gerade so eine Last von dieser zierlichen Frau mit den langen blonden Haaren und dem Sauerstoffschlauch abfällt.
Der Tag der Organspende (1. Juni) solle danken, aufklären und gleichzeitig zur Beschäftigung mit dem Thema ermuntern, teilte die Deutsche Stiftung Organtransplantation mit. Die Bürger sollten sich mit dem Thema befassen und eine Entscheidung treffen, die „viele von uns immer wieder gerne aufschieben – zumindest solange es uns nicht selbst betrifft. Eine Entscheidung, die aber Leben retten kann“. Nach mehreren Jahren des Rückgangs war die Zahl der Organspender im vergangenen Jahr erstmals wieder auf 955 Spender angestiegen. Dem standen rund 9.400 Menschen auf der Warteliste gegenüber. 3.790 bekamen ein Organ transplantiert. Derzeit gibt es eine Debatte über eine Neuregelung der Organspende.
Der Arzt hat das Zimmer noch keine Sekunde verlassen, da bricht es aus Sabina heraus, und die Erleichterung, die sich in schluchzenden Tränen entlädt, ist mit Händen greifbar. Sabina und ihre Schwester Lisa liegen sich weinend in den Armen, und auch Ehemann Markus wird schnell ein Teil dieser großen Umarmung, die jetzt einfach sein muss. Wie gesagt, viel Zeit bleibt nicht, weil dann auch schon die Pfleger kommen und die Patientin dorthin bringen, wo jetzt schnell gehandelt werden muss. Ob sie denn keine Angst gehabt habe vor der Operation, frage ich Sabina. Schließlich gebe es ja ein nicht unerhebliches Risiko, so einen Eingriff nicht zu überleben. Sabina schüttelt heftig den Kopf und antwortet mit fester Stimme: „Nein, ich war sowas von bereit für diese Operation.“
Immer werden mehrere Patienten einbestellt
Das alles liegt an diesem diesigen Nachmittag, als wir an Sabinas weißem Esszimmertisch zusammensitzen, ein knappes Jahr zurück. Allerdings sind die Erinnerungen an diese Tage im Mai sofort wieder so lebendig, dass Sabina manchmal Pausen macht beim Erzählen. Ganz nah sind dann die Gefühle von damals, wo es um Leben und Tod ging.
Wenn man, sagt Sabina, so einen Anruf bekommt, dann hieße das ja nicht automatisch, dass es auch wirklich zur Transplantation kommen würde. In der Regel würden nämlich zwei Patienten der Warteliste einbestellt, und wenn das Organ schließlich im Krankenhaus eingetroffen sei, würde genau geprüft, für wen es besser passen würde. Das Gespräch stockt an dieser Stelle, weil wir beide uns ausmalen, was passiert wäre, wenn der Arzt nach der stundenlangen Wartetortur mitgeteilt hätte, Sabina müsse unverrichteter Dinge wieder nach Hause – leider, aber nicht zu ändern.
Zum Glück ist es anders gekommen, und deshalb schieben wir beide diesen unaussprechlichen Gedanken wieder zur Seite. Auch die Operation selbst ist gut verlaufen. Die Spenderlunge hat gepasst und auch ohne größere Zwischenfälle ihre Arbeit aufgenommen. Sabina hat sich auf der Intensivstation gut erholt, und für ein paar Tage sah alles so aus, als würde einem Happy End nichts im Weg stehen.
Dann kam es doch noch zu unerwarteten und schwerwiegenden Komplikationen
Doch während die Patientin selbst und alle, die mit ihr gebangt und gehofft hatten, gerade dabei waren, sich langsam wieder zu entspannen, kam es zu ebenso unerwarteten wie schwerwiegenden Komplikationen. Sabina hatte begonnen, auf die Immunsuppressiva – das sind Medikamente, die verhindern sollen, dass der Körper das eigentlich fremde Organ abstößt – allergisch zu reagieren. Das führte dazu, dass sie epileptische Anfälle bekam und von der Normalstation wieder auf die Intensivstation verlegt werden musste.
Der Rückschlag, vor dem alle sich so gefürchtet hatten und der lebensbedrohliche Ausmaße angenommen hatte, war also eingetreten. Was nun folgte, war ein wochenlanger Kampf der Ärzte, um Sabinas Zustand mit Hilfe anderer Medikamente wieder zu stabilisieren. Am Ende ist das glücklicherweise gelungen, aber man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, welche Wunden Sabinas Psyche in dieser Zeit davongetragen hat.
Auf ihrem Blog hat Sabina Ende vergangenen Jahres über ihre Erlebnisse seit Mai 2018 geschrieben. „Es fehlt eigentlich nur diese Zeit, als ich den Rückschlag hatte. Das schaffe ich einfach nicht, das aufzuschreiben“, erklärt sie und es ist ihr anzumerken, dass die Erinnerung an damals sie immer noch heftig quält.
Den Alltag zurückerobern
Nach einer Stunde des Erzählens habe ich den Eindruck, dass Sabina Mühe hat beim Sprechen. Denn nach wie vor ist ihre Atmung nicht die eines gesunden Menschen. Deutlich hörbar ist das Einatmen, und es klingt ein wenig so, als wäre es anstrengend, die Luft beim Reden richtig zu dosieren. Als ich Sabina daraufhin anspreche, winkt sie ab. Nein, sie könne, sagt sie, gut noch weitersprechen.
Allerdings sei es in der Tat so, dass sie das richtige Zusammenspiel von Atmung und Sprache noch lernen müsse. Zu diesem Zweck geht sie mehrmals pro Woche zur Logopädin und zur Physiotherapie. Nach den vielen Jahren mit einer nahezu komplett funktionsunfähigen Lunge, dauert es eine ganze Weile, bis man wieder daran gewöhnt ist, mit einem gesunden Organ umzugehen.
Überhaupt hat sich viel in Sabinas Leben verändert seit der Transplantation. „Ich bin einfach viel leistungsfähiger geworden und das ist immer noch sehr ungewohnt für mich“, erläutert sie. Vor allen Dingen in den letzten vier Jahren zuvor war Sabina immer extrem müde und schlapp. Selbst kleine Spaziergänge haben sie an ihre Grenzen gebracht, und so musste ihr Mann neben seiner Berufstätigkeit beinahe alle anfallenden Arbeiten im Haushalt übernehmen.
Jetzt ist Sabina dabei, sich nach und nach wieder Betätigungsfelder zurückzuerobern, und wenn sie davon erzählt, wie sie zum Einkaufen fährt, das Essen kocht und jeden Tag mehrmals mit Hündin Hellen lange Gassi-Runden dreht, strahlen ihre dunklen Augen.
„Wir müssen das alles erst lernen“
Sabina ist keine, die große Worte macht. Wenn sie allerdings darüber spricht, wie sich ihr Leben seit der Transplantation verändert hat, dann wird einem auch so schnell klar, wie sehr sie es genießt, Schritt für Schritt die eigentlich unbedeutenden, kleinen Dinge des Alltags selbstständig erledigen zu können. Daran scheint sie sich auch schneller zu gewöhnen als beispielsweise ihr Mann Markus, der gelegentlich immer noch aufspringt, um seiner Frau Dinge abzunehmen, die diese mittlerweile sehr gut selbst auf die Reihe bekommt. „Wir müssen das alles erst lernen“, lacht sie.
Bis Sabinas Lunge ihre volle Leistungsfähigkeit entfaltet haben wird, dauert es etwa ein Jahr. Das fremde Organ angenommen hat sie allerdings vom ersten Moment. Im Gegensatz zu anderen Patienten, die oft mit Fremdheitsgefühlen zu kämpfen haben, hatte Sabina damit überhaupt keine Probleme. Über den Spender weiß sie naturgemäß nichts.
„Als ich noch im Krankenhaus lag, habe ich einmal geträumt, dass es eine Frau gewesen ist“, erzählt sie. Und auch, dass sie sich viele Gedanken über den Menschen macht, der da gestorben ist. „Ich würde gerne wissen, ob er noch jung war, ob er verheiratet war und wie er so gelebt hat.“ Dafür, wie dankbar sie diesem Unbekannten und seiner Familie sei, habe sie keine Worte.
„Ich zünde jeden Abend eine Kerze an und bedanke mich dann bei meinem Spender"
Gerne würde sie die Hinterbliebenen wissen lassen, wie gut es ihr heute ginge und wie glücklich sie sei. „Vielleicht könnte sie das ein bisschen über ihren Verlust trösten“, mutmaßt Sabina und weiß doch gleichzeitig, dass es dazu aller Voraussicht nach nicht kommen wird.
Sie selbst hat sich, seit sie wieder zuhause ist, ein Ritual ausgedacht, das sie täglich praktiziert. „Ich zünde jeden Abend eine Kerze an, lasse dazu ruhige Musik laufen und bedanke mich dann bei meinem Spender, dass er mir mein neues Leben geschenkt hat.“
Was ist Mukoviszidose?
Mukoviszidose ist eine angeborene Stoffwechselerkrankung. Sie gehört zu den seltenen Erkrankungen und wird durch eine Veränderung im Mukoviszidose-Gen, dem CFTR-Gen, verursacht. Die Mutation führt zu einem defekten Kanal in der Zelloberfläche. Dieser Kanal sorgt normalerweise dafür, dass Salz und Wasser aus der Zelle ein- und ausströmen. Ist der Kanal defekt, kommt es zu einem Ungleichgewicht im Salz-Wasser-Haushalt der Zelle. Deshalb enthält der Schleim, der die Zellen bedeckt, bei Mukoviszidose zu wenig Wasser und wird dadurch zäh. Der zähe Schleim verstopft eine Reihe lebenswichtiger Organe. Da das Mukoviszidose-Gen in fast allen Geweben des Körpers vorkommt, können viele Organe betroffen sein. Hierzu zählen vor allem die Lunge, die Bauchspeicheldrüse, die Leber sowie der Darm. Es kommt zu immer wiederkehrenden Entzündungen. Die Organe können nicht mehr richtig arbeiten. Bislang ist die Erkrankung nicht heilbar.
(Der Artikel wurde erstmals am 22. April 2019 veröffentlicht.)
Dieser Artikel wurde verfasst von Susanne Holzapfel
*Der Beitrag „Kurz nach erlösendem Anruf kamen die Sanitäter: Spenderlunge rettete Sabinas Leben“ stammt von Sankt Michaelsbund. Es gibt keine redaktionelle Prüfung durch FOCUS Online. Kontakt zum Verantwortlichen hier.
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