„2012 hat es angefangen. Da war ich 19, hatte gerade mein Abi gemacht und bin nach Bonn gezogen, um dort zu studieren. Ich zog in eine WG mit Leuten, die ich nur flüchtig kannte.
Als die Uni losging, spürte ich eine neue Nervosität: Ich hatte Angst, als ich morgens das Haus verließ, Angst vor den Vorlesungen, Angst davor, keinen Anschluss zu finden, nicht cool genug zu sein, das alles nicht zu schaffen. Es wurde so schlimm, dass ich anfing, Veranstaltungen zu schwänzen.
Ich isolierte mich, verbrachte viel Zeit im Bett. Ich war sogar damit überfordert, einkaufen zu gehen: Wenn ich an der Kasse im Supermarkt stand, stieg Panik auf und ich musste den Laden sofort verlassen – ich kam mir so verrückt vor.
Ich habe versucht, mir nichts anmerken zu lassen. Meinen Eltern* erzählte ich, dass die Uni mir Spaß macht, ich regelmäßig hingehe und alles super ist. Dabei war gar nichts super.
Dann fingen die Schlafprobleme an. Ich war oft 48 Stunden am Stück wach, ohne etwas zu machen. Meistens lag ich einfach da, grübelte und schaute ins Leere. Ich war nicht müde. Ich hatte eine extrem starke innere Unruhe und auf der anderen Seite das Gefühl, nicht aufstehen zu können, weil meine Beine mich nicht tragen würden.
Depressive Menschen sind durch ihre Erkrankung meist in ihrer gesamten Lebensführung beeinträchtigt. Es gelingt ihnen nicht oder nur schwer, alltägliche Aufgaben zu bewältigen, sie leiden unter starken Selbstzweifeln, Konzentrationsstörungen und Grübelneigung.
Quelle: Leitlinie Depression Bundesärztekammer
Ich habe mich wahnsinnig geschämt, wie ich da eine Woche lang das Bett nicht verlassen habe. Ich ging nicht duschen, trug immer den gleichen Pullover. Wenn jemand fragte, sagte ich, ich hätte eine Magengrippe. Ich dachte, das wird eher akzeptiert als das, was gerade in mir passierte.
Irgendwann redete ich mir ein, dass alles daran liegt, dass ich den falschen Studiengang gewählt habe, und dass ich nur das finden muss, was ich wirklich möchte. Ich brach das Studium ab. Zunächst ging es mir tatsächlich besser, der Druck war weg.
Nach einer Auszeit habe ich mich erneut für ein Studium beworben, war voller Tatendrang. Die Uni Duisburg hat mich für Soziologie angenommen. Ich dachte, jetzt wird alles besser.
Als die Vorlesungen losgingen, kamen die alten Verhaltensmuster: Als es auf die Prüfungsphase zuging, spürte ich wieder die Panik. Mir fehlte die Kraft zum Lernen. Stattdessen verbrachte ich viel Zeit im Bett.
Sofort dachte ich wieder: Studieren ist nicht das Richtige für mich. Ich hatte wahnsinnige Zukunftsangst, war inzwischen schon 23 und sah keine Perspektive. Dann fiel ich in ein richtig tiefes Loch.
Depressive Störungen gehören zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen.
Quelle: Bundesministerium für Gesundheit
Ich blieb nicht nur eine, sondern mehrere Wochen am Stück in meiner Wohnung. Der Fernseher lief rund um die Uhr, weil ich die Hintergrundgeräusche brauchte, um mich nicht allein zu fühlen. Trotzdem fühlte ich mich furchtbar einsam. Ich nahm 30 Kilo ab, weil ich keinen Appetit mehr hatte. Manchmal las ich nächtelang. Es war wie eine Flucht in andere Geschichten. Bloß nicht meine eigene leben müssen.
Meine Wohnung verkam. Mein inneres Chaos wurde mein äußeres Chaos: Ich räumte nicht auf, putzte nicht, mir fehlte zu allem die Lust.
Bis ich irgendwann merkte, dass ich nicht mal mehr traurig war. Ich fühlte mich nur noch leer.
Manche Betroffene berichten von innerer Leere und der Unfähigkeit, eigene Gefühle wahrnehmen zu können. Sie geben an, sich wie versteinert zu fühlen.
Quelle: Deutsche Depressionshilfe
Dann kam der Tag, an dem ich dachte: Ich weiß nicht, ob ich morgen aufwachen will. Ich wollte nur noch, dass es aufhört. Es war ein Donnerstag. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb einen Abschiedsbrief.
Als ich dasaß und den Brief anschaute, wurde mir klar, was ich da eigentlich gerade mache – und dass ich das gar nicht will. Am nächsten Morgen schleppte ich mich mit letzter Kraft zu meinem Hausarzt.
Depressionen sind immer von dem Gefühl begleitet, aus der Situation nicht mehr herauszukommen. Betroffene sehen häufig keinen Ausweg mehr.
Quelle: Deutsche Depressionshilfe
Er kannte mich, ich vertraute ihm. Da brach alles aus mir heraus. Davor bekam ich immer nur Sprüche zu hören wie „Du musst mal den Arsch hochbekommen“ oder „Du bist faul, du warst immer schon faul“. Ich dachte, die anderen haben recht, ich muss mich ja nur mal zusammenreißen.
Mein Arzt dagegen nahm mich sehr ernst und wies mich am selben Tag noch in eine psychiatrische Klinik ein. Als ich das hörte, hatte ich zuerst Angst. Aber ich war auch erleichtert, weil ich nicht mehr allein damit war.
In der Klinik bekam ich dann die endgültige Diagnose: schwere depressive Episode.
Die häufigsten Erkrankungsformen:
– Unipolare Depression: wiederkehrende depressive Episoden (zwischendurch depressionsfreie Episoden)
– Bipolare Depression: manisch-depressive Erkrankung (Wechsel zwischen Depression und Manie)
– Dysthymie: depressive Stimmung über mindestens zwei Jahre
Quelle: Deutsche Depressionshilfe
Ich war drei Monate in stationärer Behandlung. Der erste Tag war viel. Viele Eindrücke, eine neue Umgebung, die Patienten, die schon länger da waren. Nach einem Gespräch mit dem Chefarzt wurde ich auf Medikamente eingestellt: Antidepressiva und Schlafmittel.
Das erste Medikament, das mir verschrieben wurde, vertrug ich nicht. Meine Hände zitterten, meine Beine zitterten, ich bekam ein Kopfzucken davon. Ich stellte dann auf ein anderes Medikament um, das nehme ich noch immer. Zwischendurch hatte ich es mal abgesetzt. Aber ich merkte, dass ich noch nicht so weit bin. Mittlerweile habe ich gelernt, dass es auch in Ordnung wäre, es mein Leben lang zu nehmen. Menschen mit anderen Erkrankungen müssen ja auch regelmäßig Medikamente nehmen.
Schätzungen zufolge leiden weltweit inzwischen circa 350 Millionen Menschen unter einer Depression.
Quelle: Bundesministerium für Gesundheit
Nach ein paar Tagen in der Klinik fühlte ich mich bereits besser. Es tat gut, mich mit Menschen auszutauschen, denen es genauso geht wie mir. Zu hören, dass andere dieselben Gedanken haben, zu wissen, man ist nicht absonderlich.
Ich denke gerne an die Klinikzeit zurück. Neben dem ganzen Kummer und der Aufarbeitung hatten wir dort viel Spaß. Ich war nie allein. Ich konnte mich zwar zurückziehen, wenn ich wollte, aber ich wusste, dass da immer jemand war.
Irgendwann kam dann der Tag meiner Entlassung. Ich hatte noch versucht, mit dem Chefarzt zu diskutieren, ihm klarzumachen, dass ich noch nicht so weit bin. Aber er blieb hart und sagte mir: „Sie müssen jetzt wieder zurück ins Leben und im Alltag umsetzen, was Sie hier gelernt haben“.
Ich wurde ganz langsam auf meine Entlassung vorbereitet, musste zunächst immer eine Nacht zu Hause und wieder eine Nacht in der Klinik schlafen. Wenn ich zu Hause blieb, wusste ich, dass ich am nächsten Tag wieder in die Klinik durfte. Dann kam der Tag, an dem ich nicht mehr zurückkommen sollte. Es war okay.
Dass sich wirklich etwas verändert hatte, merkte ich, als ich begann, meine Wohnung zu renovieren. Ich habe aussortiert, weggeschmissen, gestrichen, neue Dinge gekauft, Schränke lackiert, alles neu gemacht. Am Ende fühlte ich mich rundum wohl – ich hatte das für mich geschaffen. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, ein Stück Alltag und Normalität zurückerlangt und die schlechten Erinnerungen hinter mir gelassen zu haben.
Ich machte kleine Schritte zurück ins Leben. Erst mal versuchte ich, wieder Struktur in den Alltag zu bekommen, morgens aufzustehen, zu duschen, zu frühstücken, mich mit etwas Schönem zu beschäftigen. Ich legte auch ein Schlafritual fest, ging wieder einkaufen, machte Spaziergänge.
Hin und wieder gibt es immer noch schlechte Tage. Es hilft mir zu wissen, dass sie vorbeigehen werden.
Bei mehr als 70 Prozent der Betroffenen kehrt die Depression im Laufe des Lebens wieder. Die meisten Rückfälle treten innerhalb von sechs Monaten nach Abschluss der Akutbehandlung auf.
Quelle: Deutsche Depressionshilfe
In der Therapie lerne ich Strategien, mit der Krankheit umzugehen. Depression hat viel mit Akzeptanz zu tun. Schlechte Gefühle zu akzeptieren, die Vergangenheit zu akzeptieren – und zu akzeptieren, dass es vermutlich mein Leben lang so bleiben wird.“
*Lena Janßen wollte im Gespräch mit dem SPIEGEL nicht näher auf die Reaktionen ihres sozialen Umfelds und ihrer Familie eingehen.
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