Die Blicke von Fremden, die sich im Supermarkt, auf der Straße oder im Park nach ihr umdrehen, tun Birgit Richter weh. Sie glaubt zu wissen, was sie denken: ‚So eine dicke Frau. Wie behäbig sie läuft!‘ „Ich kann nichts dafür“, möchte Richter schreien, „ich bin krank!“ Sie tut es nie. Stattdessen verlässt die 52-Jährige selten das Haus, bunkert ihren 134 Kilo schweren Körper ein: „Ich fühle mich wie lebendig begraben“, sagt sie.
Wie viele Frauen leiden?
Birgit Richter ist eine von vielen Frauen in Deutschland, für die sich Gesundheitsminister Jens Spahn kürzlich stark machte, weil sie unter einem sogenannten Lipödem leiden – einer krankhaften Fettverteilungsstörung. Wie viele es wirklich sind, weiß niemand so genau, denn es existieren keine gesicherten Daten. „Wir schätzen, dass etwa zehn Prozent aller Frauen davon betroffen sind“, sagt Gunther Felmerer, Leiter des Schwerpunkts Plastische und Ästhetische Chirurgie an der Universitätsmedizin Göttingen. Angesichts der hohen Schätzung betont er: „Nicht alle Betroffenen fühlen sich krank und haben Behandlungsbedarf.“
Lipödem – was ist das?
„Die Erkrankung betrifft ausschließlich Frauen“, sagt Felmerer. „Bei den Betroffenen findet man krankhaft verändertes Fettgewebe an beiden Beinen, Knien und Unterschenkeln. Die Füße sind nie betroffen.“ Im Verlauf der Krankheit könnten auch die Arme befallen sein.
Die Ursache ist bisher unbekannt. „Wir vermuten, das es etwas mit hormonellen Veränderungen zu tun hat“, sagt Klaus Walgenbach, Leiter der Plastischen und Ästhetischen Chirurgie am Universitätsklinikum Bonn. „Häufig entstehen Lipödeme in der Pubertät, Schwangerschaft oder in den Wechseljahren. Außerdem könnte eine genetische Veranlagung bestehen.“
Die deutlichsten Symptome der Erkrankung: Die Gliedmaßen werden dicker, die Haut druckempfindlicher und anfälliger für blaue Flecken.
Jedes Kilo bringt mehr Schmerzen
Birgit Richter ist eine der schwer Betroffenen. Seit sieben Jahren wird die heute 52-Jährige, die immer schlank war, jeden Tag ein bisschen mehr. „Dabei esse ich nicht viel. Ich muss hilflos zuschauen.“
Die Zunahme begann 2012, nachdem ihr die Gebärmutter entfernt worden war. Die Hamburgerin hielt Diät, machte noch mehr Sport – doch ihre Figur wurde immer üppiger. Und nicht nur das: Mit jedem Kilo mehr schlich sich auch der Schmerz in ihren Körper. „Es brennt wie Feuer“, sagt Richter. „Es reißt und spannt bei jeder Bewegung.“ Zähne putzen oder Haare föhnen hält sie kaum aus.
Woher kommen die Schmerzen?
Auch darüber weiß die Medizin noch nicht viel. „Es ist typisch für das Lipödem, dass sich zwischen den Fettzellen Wasser einlagert“, sagt Walgenbach. „Eine vage Theorie dazu ist, dass entzündliche Vorgänge das Bindegewebe verändern und es so zu Abflussstörungen kommt.“ Es werde vermutet, dass die Nerven durch diese Gewebeveränderungen empfindlicher und reizbarer werden.
Konservative Behandlung reicht oft nicht aus
Birgit Richter hat alles versucht, um die Kontrolle über ihren Körper zurückzugewinnen. Mit Sport kam sie nicht weiter. „Die Fettzellen sind krankhaft verändert und reagieren auf sportliche Bewegungen nicht wie gesunde Fettzellen“, erklärt Walgenbach. Richter versuchte es mit den konservativen Behandlungsmethoden Lymphdrainage und Kompressionsbehandlung. Bei der Lymphdrainage lässt sich durch sanfte Handgriffe gestaute Flüssigkeit aus dem Körper lösen. Kompressionswäsche erhöht den Druck auf das Gewebe, wodurch ebenfalls Flüssigkeit abfließen kann. „Häufig entsteht durch diese beiden Methoden zwar eine leichte Umfangreduzierung, aber das Schweregefühl und die Schmerzen bleiben“, so Walgenbach.
So erging es auch Birgit Richter, langfristige Erleichterung gab es für sie nicht. „Mir ging es psychisch immer schlechter“, erzählt die Friseurin, „ich konnte meinen Job nicht mehr machen.“
Sie entschied sich für eine Operation – die sogenannte Liposuktion. Dabei wird das überschüssige, krankhafte Körperfett abgesaugt. Das ist teuer: Eine Sitzung kostet zwischen 3000 und 7000 Euro. Bisher ist der Eingriff keine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen, sie entscheiden im Einzelfall. Eine Betroffene klagte 2018 auf Kostenübernahme – und scheiterte. Die dauerhafte Wirksamkeit der Methode sei nicht ausreichend gesichert, befand das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.
Endlich die Zusage der Krankenkasse
Birgit Richter stellte trotzdem einen Antrag. Drei Widersprüche musste sie verkraften. Mit Unterstützung vom Sozialverband Deutschland kam anderthalb Jahre später doch eine Zusage. „Ich habe vor Freude geweint“, erinnert sie sich.
Mittlerweile hat sie drei Fettabsaugungen durchführen lassen. Die behandelten Stellen waren danach schmerzfrei. Doch bei Birgit Richter verlagerte sich das Problem – auf den Bauch und den Po. „Nun habe ich die Schmerzen an anderen Stellen, ich kann kaum auf einem Stuhl sitzen“, erzählt sie. Weitere Operationen werden auf sie zukommen.
Häufig sind mehrere Eingriffe nötig
Das Risiko, dass eine Fettabsaugung weitere nach sich ziehe, sei immer gegeben, erklärt Walgenbach. „Unter stationären Bedingungen können wir maximal fünf bis sieben Liter entfernen, da wir ansonsten den Kreislauf zu stark belasten. Häufig befindet sich aber wesentlich mehr krankhaftes Fett im Körper, das dann zurückbleibt.“ Folglich seien bei vielen Patientinnen mehrere Sitzungen nötig.
Vom Erfolg der Liposuktionen ist Walgenbach dennoch überzeugt: „Es werden sowohl das Körpervolumen als auch die Schmerzen reduziert. Meist erreichen wir zusätzlich ein kosmetisch ansprechendes Ergebnis, was für die Psyche der Patientinnen eine große Rolle spielt.“
„Wir sehen die Verbesserungen“
Gunther Felmerer von der Universitätsmedizin in Göttingen empfiehlt den Eingriff, nachdem Betroffene vorher ein halbes Jahr lang die konservativen Methoden erfolglos ausprobiert hätten. „Jede Operation birgt ein Risiko, das nicht leichtfertig eingegangen werden sollte“, so Felmerer. Er hält es trotzdem für sinnvoll, die Fettabsaugung bei Lipödemen langfristig in den Kostenkatalog der Krankenkassen aufzunehmen. „Allerdings muss die Diagnose klar gestellt sein.“ Hier sieht auch Klaus Walgenbach ein Problem: „Es kommt vor, dass andere Erkrankungen für ein Lipödem gehalten werden.“
„Endlich hört uns jemand zu“
Birgit Richter ist dabei, die nächste Operation zu planen. Ihre Krankenkasse übernimmt erneut die Kosten. Aus vielen Selbsthilfegruppen weiß sie, dass andere Frauen dieses Glück nicht haben. „Sie leiden jahrelang, und die Kassen weigern sich“, erzählt Richter. Darum setze sie große Hoffnung in den Vorstoß von Bundesgesundheitsminister Spahn, Lipödeme zur Kassenleistung zu machen. „Keiner kann sich vorstellen, was die Krankheit für uns bedeutet“, sagt sie. „Jetzt hört uns endlich jemand zu.“
Und tatsächlich ist das Ziel jetzt ein Stück näher gerückt: Zumindest besonders schwer erkrankte Frauen im sogenannten Stadium 3 sollen die Liposuktion ab 1. Januar 2020 von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt bekommen – so lautet der Vorschlag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), der für solche Entscheidungen zuständig ist. Für Frauen mit den leichteren Stadien 1 und 2 solle eine mögliche Kostenübernahme nach Abschluss einer randomisierten, kontrollierten Studie erfolgen.
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