Wie die Präqualifizierung die Wirtschaft ankurbelt

Es existieren so einige Dinge in deutschen Apotheken, deren Funktion und Daseinsberechtigung selbst der Apothekenleitung nicht so recht klar sind. Das wohl berüchtigtste Beispiel dieses Phänomens dürfte die Bohrmaschine sein. Sie wurde für die Präqualifizierung gekauft und wartet seitdem geduldig auf ihren Einsatz. Und sie wartet, staubt ein, wird fotografiert und wartet dann wieder einige Jahre weiter. Aber das in bester Gesellschaft, wie uns zwei Kolleginnen berichten.

Sicherlich gibt es einige Stimmen in Politik und Wirtschaft, die sich über die großangelegte Neuanschaffung von Einrichtungsgegenständen, Mobiliar, Werkzeug oder Türen freuen. Und dies auch, wenn ihre bereits vorhandenen Pendants durchaus funktional und uneingeschränkt nutzbar sind. Oder die Gegenstände schlichtweg nicht benötigt werden. Konsum kurbelt immerhin die Wirtschaft ordentlich an und schafft somit Arbeitsplätze (und Abfall und CO2-Emissionen) [1,2]. Bei denjenigen, die letztlich die Kosten solch eines Kaufrausches zu tragen haben, hält sich hingegen die Freude nachvollziehbar in Grenzen.

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Auch eine Kollegin aus dem mittelfränkischen Landkreis Ansbach war alles andere als glücklich über manch eine der seitens des GKV-Spitzenverbands gestellten Forderungen. Diese muss sie jedoch umfassend erfüllen, um ihre Kundschaft zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung mit Hilfsmitteln zu versorgen. Und eben aus genau diesem Grunde musste sie eine Liege für den Beratungsraum anschaffen. Eine Investition, auf die sie gerne verzichtet hätte. Schließlich wurde die Liege bis heute nicht ein einziges Mal im Praxisalltag der Apotheke eingesetzt. Zumindest nicht für die Versorgung der Patientinnen und Patienten mit Hilfsmitteln. Ihre bislang einzige Bestimmung besteht darin, einfach nur vorhanden zu sein. Diese Tatsache muss die Filialleiterin ihrer Präqualifizierungsstelle bei (Re-)Präqualifizierungen und Audits regelmäßig nachweisen, mit immerzu neuen Fotos des Raums aus möglichst vielen verschiedenen Winkeln. Dies wiederum gestalte sich in dem kleinen Beratungsraum der Apotheke wirklich schwierig, so die Apothekerin. Aber immerhin habe sie bislang immer ihre Präqualifizierung bekommen.

Auch in Mittelfranken keine Verwendung für eine Liege

Ähnliches berichtet auch eine weitere Kollegin aus Mittelfranken. Nachdem diese zuvor schon verschiedene Probleme mit ihrer Präqualifizierungsstelle hatte, wechselte sie Anfang 2021 für die nächste anstehende Qualifizierung hoffnungsvoll den Anbieter. Doch nicht ohne, dass die bisherige Stelle sich die Durchführung eines Audits kurz vor Ende des Vertrags noch offen halten wollte. Glücklicherweise blieb es bei der Androhung der Überwachungsmaßnahme und die Apotheke konnte sich auf das neue Verfahren fokussieren. 

Bei diesem allerdings forderte die bis dato unbescholtene Präqualifizierungsstelle ebenfalls den Kauf einer Liege. Somit investierte die Apotheke in eine Massageliege, für welche es laut Apothekerin allerdings überhaupt keine Verwendung gebe. Das Abmessen der Kompressionsstrümpfe, für die der Kriterienkatalog des GKV-Spitzenverbands solch eine Ausstattung explizit vorschreibt [4], erfolge immerzu im Stehen. Dies sei dem Personal in einschlägigen Strumpfseminaren auch ebenso gelehrt worden. 

Damit die Wertsache Massageliege die Arbeit in der Apotheke nicht durch ihr raumeinnehmendes Wesen behindert, werde diese zusammengeklappt im Notdienstzimmer aufbewahrt. Im Notdienstzimmer deshalb, da der tatsächlich für die Vermessung genutzte Beratungsraum so klein ist, dass in diesen überhaupt keine Liege hineinpasst. Sobald es also wieder einmal an der Zeit für neue Fotos des „Raum[s] zur Beratung und Anpassung mit Liege“[4] sei, werde die Massageliege im Notdienstzimmer aufgeklappt. Für diesen bürokratischen Akt war zuvor schon das in dem Raum vorhandene Bett akzeptiert worden, doch getreu dem Motto „Neu ist immer besser!“ wollte die neue Präqualifizierungsstelle dieses nicht durchgehen lassen.

Geteiltes Leid …

Außer ihrer ungefähren geografische Lage und ihrer noch viele Jahre lang neuwertig bleibenden Liegen haben die Apotheken der beiden Kolleginnen noch eine weitere Gemeinsamkeit: Die Präqualifizierungsstellen tun sich wiederholt sehr schwer mit der Einschätzung der akustischen und optischen Abgrenzung ihrer Beratungsräume. Trotz vorheriger Akzeptanz eben dieser völlig unveränderten Räumlichkeiten. 

Die Regelungsgrundlage

Der durch den GKV-Spitzenverband herausgegebene Kriterienkatalog zu den Empfehlungen gemäß § 126 Absatz 1 Satz 3 SGB V schreibt für einige Versorgungsbereiche das Vorhandensein eines „akustisch und optisch abgegrenzte[n] Bereich[s]/Raum[s] zur Beratung und Anpassung[…]“ vor. Diese räumliche Voraussetzung wird, je nach betroffenem Versorgungsbereich, weiter unterteilt. Für manche Hilfsmittel wird in diesem Raum eine Sitzgelegenheit vorgeschrieben, für andere wiederum eine Liege [4]. Wie diese Möbel beschaffen sein müssen, wird im Kriterienkatalog nicht ausgeführt. Auch die zugrundeliegenden Empfehlungen des GKV-Spitzenverbands formulieren nichts Genaueres [5]. In den „Häufig gestellte[n] Fragen“ auf der Internetseite des GKV-Spitzenverbands finden sich jedoch (unverbindliche) Hinweise, welche die Präqualifizierungsstellen bei ihren Entscheidungen über die Anerkennung von Liegen unterstützen sollen. Laut diesen solle berücksichtigt werden, dass Erwachsene vollständig auf der Liege liegen können, sie von mindestens zwei Seiten erreichbar sein müsse, ihre Höhe sowohl das Maßnehmen als auch die Anprobe in „einer ergonomisch angemessenen Arbeitshöhe“ ermöglichen soll sowie, dass die Hilfsmittel anprobiert oder ausgemessen werden können, ohne dass die Person in „für sie bzw. ihn ungünstige Positionen gebracht werden muss“ [6].

Apothekenübliche Hilfsmittel, für die laut Kriterienkatalog eine Sitzgelegenheit im Beratungsraum vorhanden sein muss, sind beispielsweise Bandagen als Fertigprodukte (für die Versorgung bis einschließlich Kniehöhe) im Versorgungsbereich 05A5. Ein analoges Beispiel für Versorgungsbereiche, für welche stattdessen eine Liege vorgeschrieben ist, ist der Versorgungsbereich 17A11. Er umfasst neben medizinischen Kompressionsstrümpfen auch die dazugehörigen Anziehhilfen [4].

Der Kriterienkatalog des GKV-Spitzenverbands unterscheidet leider nicht, welche Betriebe welche Dienstleistungen in Bezug auf die abzugebenden Hilfsmittel anbieten. Während Fertigbandagen in Apotheken zumeist direkt über den HV-Tisch wandern, erfolgen in Sanitätshäusern oder anderen spezialisierten Betrieben wohl häufiger individuelle Anpassungen. Der GKV-Spitzenverband erklärt diesbezüglich auf Anfrage, dass die Leistungserbringenden für alle Hilfsmittel präqualifiziert werden, die in einem Versorgungsbereich zusammengefasst seien. Aufgrund der Anforderungen an die fachlichen Leitungen werden Apotheker und Apothekerinnen nicht in Versorgungsbereichen aufgeführt, die handwerklich zu fertigende Hilfsmittel enthalten. Eine weitere Differenzierung der bereits vorhandenen 151 Versorgungsbereiche werde nicht als sinnvoll erachtet.

Dies wiederum erklärt übrigens auch, wieso einige Apotheken eine Bohrmaschine benötigen. In der Produktuntergruppe 33.40.02 („Toilettenstützgestelle“) des Hilfsmittelverzeichnisses nach § 139 SGB V sind Hilfsmittel aufgelistet, die mittels Schrauben an der Wand oder am Boden zu montieren sind [7]. Im Versorgungsbereich 33A („Toilettenhilfen“) der Empfehlungen des GKV-Spitzenverbands sind die Hilfsmittel dieser Untergruppe mit enthalten. Ebenso wie Toilettenhilfen, für die es keiner Bohrmaschine bedarf [5].

Während die eine Apothekerin unverhofft die Schalldichtigkeit ihres fensterlosen und allseitig geschlossenen Raums anhand von Fotos nachweisen sollte, musste der Beratungsraum der anderen Kollegin aus dem tatsächlich dazu ausgestatteten zweiten Stock in das Apothekenbüro umziehen. Immerhin entsprach dieses eher der normkonformen Vorstellung eines Beratungsraums aus Sicht der Präqualifizierungsstelle. Stein des Anstoßes für diesen Umzug war übrigens die nicht ausreichende Abgrenzung des Raums im zweiten Stock der Apotheke durch einen bodenlangen, den Durchgang vollständig seitlich bedeckenden sowie blickdichten Vorhang (Fotos liegen der Redaktion vor). Da dieser sich binnen der von der Präqualifizierungsstelle gesetzten Frist von drei Wochen nicht gegen eine Tür austauschen ließ und das bereits mit Türen vorausgestattete Büro von der Präqualifizierungsstelle akzeptiert wurde, blieb der Apothekerin in diesem Fall immerhin ein weiteres Ankurbeln der Wirtschaft erspart. Anders als andere Kolleginnen und Kollegen, die der Innentür-Branche einige zusätzliche Aufträge einbringen mussten (siehe Teil 3 dieser Serie auf DAZ.online) [3].

Zeitaufwendig und unnütz

Beide Apothekerinnen sind sich darin einig, dass sie das Präqualifizierungsverfahren für Apotheken als überflüssig empfinden. Außer einem hohen Zeitaufwand, diversen unnützen Investitionen und viel Ärger habe das Verfahren die Hilfsmittelversorgung in ihren Apotheken nicht beeinflusst. Im Gegenteil, die Versorgung werde zunehmend unwirtschaftlicher und bedrohe somit potenziell die Existenz kleinerer Betriebe.

Literaturverzeichnis:

[1] Weber B (2010), Ökonomisierung versus Regulierung? Haushalte zwischen Markt und Staat, in: bpb.de, 19. November 2021, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/7602/oekonomisierung-versus-regulierung-haushalte-zwischen-markt-und-staat/, letzter Zugriff am 5. Juni 2022.  

[2] Umweltbundesamt (2021), Konsum und Umwelt: Zentrale Handlungsfelder, in: umweltbundesamt.de, 12. Oktober 2021,  https://www.umweltbundesamt.de/themen/wirtschaft-konsum/konsum-umwelt-zentrale-handlungsfelder#ma%C3%9Fnahmen, letzter Zugriff am 5. Juni 2022.  

[3] Geller J (2022), Schrödingers Beratungsecke – der hermetisch abgeriegelte Beratungsraum, in: deutsche-apotheker-zeitung.de, 20. Mai 2022, https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2022/05/20/schroedingers-beratungsecke-der-hermetisch-abgeriegelte-beratungsraum, letzter Zugriff am 5. Juni 2022. 

[4] GKV-Spitzenverband (2021), Kriterienkatalog Empfehlungen gemäß § 126 Absatz 1 Satz 3 SGB V, in: gkv-spitzenverband.de, 30. August 2021, https://gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/hilfsmittel/praequalifizierung/eignungskriterien/ek_ab_01_januar_2022/HiMi_Kriterienkatalog_30.08.2021.pdf, letzter Zugriff am 5. Juni 2022. 

[5] GKV-Spitzenverband (2021), Empfehlungen des GKV-Spitzenverbands gemäß § 126 Absatz 1 Satz 3 SGB V für eine einheitliche Anwendung der Anforderungen zur ausreichenden, zweckmäßigen und funktionsgerechten Herstellung, Abgabe und Anpassung von Hilfsmitteln, in: gkv-spitzenverband.de, 30. August 2021, https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/hilfsmittel/praequalifizierung/eignungskriterien/ek_ab_01_januar_2022/HiMi_Empfehlungen_nach__126_SGB_V_30.08.2021_bf.pdf, letzter Zugriff am 6. Juni 2022. 

[6] GKV-Spitzenverband (2022), Häufig gestellte Fragen Empfehlungen nach § 126 Abs. 1 Satz 3 SGB V, in: gkv-spitzenverband.de, Februar 2022, https://gkv-spitzenverband.de/krankenversicherung/hilfsmittel/praequalifizierung/eignungskriterien/eignungskriterien.jsp, letzter Zugriff am 6. Juni 2022. 

[7] REHADAT GKV-Hilfsmittelverzeichnis (2022), Produktgruppe 33, in: rehadat-gkv.de, 25. März 2022, https://www.rehadat-gkv.de/produkt/index.html?sys=33&s3f=s3f, letzter Zugriff am 6. Juni 2022. 

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