Frau Prof. Protzer, in einer Antikörper-Studie haben Sie mituntersucht, wie stark das Coronavirus unter Kindern in Bayern verbreitet ist. Das Ergebnis: sechs Mal häufiger als die offiziellen Zahlen nahelegen. Hat Sie das Ergebnis überrascht?
Ja, ein bisschen. Ich hatte anfangs erwartet, dass es unter Kindern etwas weniger Infektionen gibt. In unserer Studie zeigte sich aber, dass die Infektionsrate an die von Erwachsenen herankommt und – ähnlich wie bei Erwachsenen – um den Faktor 6 höher liegt als man annahm.
Wie erklären Sie sich die Dunkelziffer bei den Kindern?
Zwei Ursachen könnten dafür infrage kommen: Zunächst einmal gab es in der Hochphase der ersten Welle keine ausreichenden Test-Kapazitäten, um jeden einzelnen Infektionsfall entdecken zu können. Da wurde sicher die ein oder andere Infektion übersehen. Und dann kommt hinzu, dass Kinder in der Regel nur sehr milde, symptomarme Infekte haben, wenn sie sich denn mit dem Coronavirus anstecken. Auch diese Infekte können schnell durchs Raster fallen.
Welche Schlüsse ziehen Sie persönlich aus den Ergebnissen?
Zu Beginn der Pandemie gab es die weit verbreitete Vorstellung, dass Kinder womöglich von Corona-Infektionen verschont blieben. Das ist widerlegt und war aus wissenschaftlicher Sicht auch nicht zu erwarten gewesen. Es wurden ja bereits sehr früh in der Pandemie Infektionen von Kindern beschrieben. Seitdem wissen wir, dass auch Kinder infektiöse Viren ausscheiden und das Virus weitergeben können.
Als Virologin sind Sie sehr früh mit den ersten Corona-Patienten in Berührung gekommen. Zusammen mit Kolleg*innen betreuten sie Anfang des Jahres eine Familie im Klinikum in Traunstein mit drei Kindern. Das Virus stammte damals von einer Geschäftsreisenden aus China, das Interesse von Öffentlichkeit und Medien war groß. Was ist Ihnen besonders gut in Erinnerung geblieben?
Vieles, was wir damals beobachten konnten, hat sich im Laufe der Zeit in weiteren Fällen bestätigt. Da waren zum einen die sehr milden Symptome der Kinder: Das Älteste der Drei hatte ein wenig Husten und Schnupfen, das Mittlere bekam kurz Durchfall und erhöhte Temperatur. Alles nichts Dramatisches. Nach einem Tag sind die wieder munter durchs Zimmer gehüpft. Dann konnten wir sehen, dass die Kinder zunächst sehr viele Viren ausgeschieden haben, was aber schnell zurückging. Und wir haben beobachtet, dass die Kinder Wachstumsstörungen an den Fingernägeln entwickelten – ein Befund, der nun häufiger gemacht wird und auch bereits von anderen, schwereren Virus-Infektionen bekannt ist.
Ein Sonderfall im positiven Sinn war das jüngste Kind der Familie, ein Säugling.
Wir haben das Kind mehrfach getestet und dabei eine sehr interessante Beobachtung gemacht: Es hat sich als einziges Familienmitglied nicht mit dem Virus angesteckt.
Haben Sie dafür eine Erklärung?
Wir vermuten, dass das Kind über Antikörper in der Muttermilch geschützt war. Die Mutter hatte sich selbst mit dem Virus angesteckt und die Infektion schnell unter Kontrolle bekommen – es standen also spezifische Antikörper zur Verfügung. Um das näher zu erforschen, haben wir auch eine Studie begonnen und prüfen, ob Muttermilch die Infektion in Zellkulturen verhindern kann.
Und?
Ja, das funktioniert tatsächlich. Es ist auch kein neues Phänomen – dass Muttermilch sehr effektive Antikörper enthält, ist von anderen Infektionen bekannt. Die Natur hat das clever angelegt: Ein Säugling, der noch keine eigene Immunität aufgebaut hat, wird dann durch die Mutter mitgeschützt. Dieses Prinzip scheint auch bei Sars-CoV-2 sehr gut zu funktionieren.
Corona beschäftigt vor allem auch die Eltern von schulpflichtigen Kindern. Zehntausende Schülerinnen und Schüler sind aktuell in Quarantäne, immer wieder ist von Corona-Fällen im Klassenzimmer die Rede. Wurde die Rolle von Kindern in der Pandemie anfangs unterschätzt?
Ja, ich glaube schon. Das lag vor allem daran, dass es zu Beginn der Pandemie ein verschobenes Bild gab. Das Virus hat sich zunächst durch Feiern, Skifahren und Après-Ski verbreitet. Da sind vor allem Erwachsene erkrankt, und die Eltern von Kindern gehen naturgemäß nicht mehr so viel auf die Piste. Dann wurden im ersten Lockdown auch noch die Schulen und Kitas geschlossen und damit die Übertragungsmöglichkeiten in jüngeren Bevölkerungsgruppen unterbrochen. Man wusste also lange Zeit überhaupt nicht, wie oft sich Kinder und Jugendliche unter normalen Bedingungen mit dem Virus anstecken.
Corona-Impfstoff
Bald sollen die Corona-Impfungen beginnen – was Sie dazu wissen müssen
Wo ist das Ansteckungsrisiko am größten – im Klassenzimmer, im vollen Schulbus oder auf der Geburtstagsfeier mit Freunden?
Es gibt dazu Studien, die sagen: Es passiert eher im privaten Bereich als in den Schulen – ungefähr drei Viertel der Ansteckungen macht das demnach aus. Natürlich kann es auch zu Übertragungen in den Schulen kommen, vor allem bei sehr engem Kontakt. Das scheint aber für die Ausbreitung der Infektion nicht so relevant zu sein.
Welche Maßnahmen werden für die Schulen mit Blick auf den Winter wichtig?
Jede Schule braucht einen strukturierten Hygieneplan und einen Hygienebeauftragten, der sich mit dem Gesundheitsamt austauscht und dessen Arbeit erleichtert. Auch einheitliche Quarantänemaßnahmen und eine einheitliche Quarantänezeit wären wünschenswert. Das wird ja von Bundesland zu Bundesland und manchmal auch von Schule zu Schule sehr unterschiedlich gehandhabt.
Welches Vorgehen empfehlen Sie?
Gibt es einen Corona-Fall, sollte die betroffene Klasse in Quarantäne. Nach 5 oder 6 Tagen kann man dann einen Antigentest machen. Nach spätestens sieben Tagen könnte dann für alle, die negativ sind, wieder mit dem Unterricht begonnen werden. Die Unterrichtszeit, die ausfällt, wäre mit diesem Vorgehen überschaubar. Auch Wechselunterricht für ältere Schüler halte ich für sinnvoll. Wenn man sich die Studien ansieht, finden bei jungen Erwachsenen doch recht viele Infektionen auch in sogenannten Clustern statt. Dasselbe gilt übrigens für Studenten oder auch Berufsschüler.
Was können Eltern tun, um einer Ansteckung bei ihren Kindern vorzubeugen?
Eine beruhigende Botschaft vorweg: Für die allermeisten gesunden Kinder ist die Infektion ungefährlich, das ist ganz wichtig. Aber man darf nicht vergessen, dass Kinder die Infektion mit nach Hause bringen können und dort womöglich Familienmitglieder anstecken, die Teil einer Risikogruppe sind. Das können die Großeltern sein oder vorerkrankte Eltern und Geschwisterkinder. Ein Mund-Nasen-Schutz ist auch in der Schule sicher hilfreich, um Infektionen vorzubeugen. Für jüngere Kinder bis neun Jahre würde ich eine medizinische OP-Maske empfehlen, durch die man gut atmen kann. Gerade bei festeren Stoffmasken ist das oft gar nicht so einfach. Sinnvoll ist es sicher auch, wenn sich Kinder außerhalb der Schule immer nur mit einer festen Gruppe von Freunden verabreden. Das erleichtert die Kontaktnachverfolgung im Fall der Fälle und verhindert eine unkontrollierte Ausbreitung. Und dann gibt es noch Maßnahmen, die im Alltag oft nur schwer umzusetzen sind, aber sicher auch Sinn machen: etwa volle Schulbusse zu meiden. Vielleicht kann das Kind aber ja auch mit dem Fahrrad oder zu Fuß zur Schule gebracht werden?
Jüngere Kinder haben oft eine Schniefnase. Ist es Corona oder eine banale Erkältung? Das fragen sich dann viele Eltern. Was sollten sie beachten?
Selbst erfahrene Kinderärzte können allein anhand der Symptome nicht zwischen einer Corona-Infektion und einer Erkältung unterscheiden, das zeigt eine große US-amerikanische Studie. Eltern sollten zunächst einmal Fieber messen. Hat das Kind eine erhöhte Temperatur, sollte es auf jeden Fall zu Hause bleiben. Gleiches gilt bei typischen Symptomen wie Husten oder Atemnot. Natürlich ist es schwierig, die Kinder bei jedem kleinen Anflug eines Symptoms immer sofort zu Hause zu lassen. Eine 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht. Deswegen kommt dem Mund-Nasen-Schutz in den Schulen auch eine wichtige Rolle zu.
Weihnachten steht vor der Tür – und damit auch Familientreffen im kleinen Kreis. Wie lässt sich das Infektionsrisiko beeinflussen?
Ich würde eine Art Vorquarantäne empfehlen – also sieben bis zehn Tage vor Weihnachten alle Kontakte außerhalb der Familie auf ein Minimum zu beschränken. Wer wenig Menschen trifft, hat auch ein deutlich niedrigeres Risiko, sich anzustecken. Das fängt bei den Kontakten auf der Arbeit an – vielleicht gibt es ja die Möglichkeit im Home-Office zu arbeiten? Sonst vielleicht auch da Maske tragen – und hört bei den Kontakten von Kindern auf.
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