Was er denn jetzt den ganzen Tag machen würde, wo er doch sein Hobby "Corona" verloren habe, wurde Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in den letzten Monaten schon mal hämisch gefragt, nachdem bei uns im Frühjahr auch die letzten Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie ausgelaufen waren. Dass für ihn das Thema noch lange nicht erledigt ist, machte Lauterbach allerdings erst jetzt wieder klar, als er für den Herbst einen Runden Tisch zum Thema Long Covid ankündigte und mehr Forschung forderte. Auch im Rahmen der G-7 hatte Deutschland beim Treffen der Gesundheitsminister im japanischen Nagasaki Mitte Mai bereits eine entsprechende Initiative vorgestellt.
Wie kurzsichtig ein Abhaken der Pandemie wäre, zeigen beispielsweise die Zahlen, die kürzlich von Hans Kluge, dem Regionaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Europa, präsentiert wurden: Allein auf unserem Kontinent haben geschätzt 36 Millionen Menschen mit andauernden Beschwerden einer Covid-19-Erkrankung zu kämpfen gehabt oder leiden noch immer darunter. Weltweit liegt die Zahl wohl bei mindestens 65 Millionen. In Deutschland liegt die Zahl der Krankschreibungen mit der entsprechenden Begründung bei rund einem Prozent der Covid-19-Kranken. Von etwa zehn Prozent aller Infizierten spricht eine aktuelle Übersichtsarbeit im internationalen Fachjournal "Nature Reviews Microbiology". Bei denen, die wegen ihrer Infektion ins Krankenhaus mussten, wird sogar eine Long-Covid-Quote von 50 bis 70 Prozent angenommen.
Post Covid und Long Covid: Ein Erschöpfungszustand, der den Alltag zur Qual machen kann
Genaue Zahlen sind allerdings kaum zu bekommen, da selbst die Definition dieser Krankheit schwer zu fassen ist. Zu weit ist das Spektrum der Symptome, die auch 12 Wochen nach einer Infektion mit Sars-CoV-2 noch festzustellen sind – so jedenfalls die geltende Festlegung der WHO für einen Zustand, der auch "Post-Covid-Syndrom" genannt wird. "Long Covid" dagegen sind im offiziellen Sprachgebrauch Krankheitsanzeichen, die über vier Wochen nach einer Infektion mit Sars-CoV-2 andauern. Doch wie immer die Grenzen auch gezogen und die Krankheitsbilder benannt werden, sicher ist vor allem, dass noch sehr wenig darüber bekannt ist, womit es Medizin und Forschung und zuallererst die Betroffenen selbst eigentlich zu tun haben.
Schon früh nach dem Ausbruch der Pandemie kam international der Begriff "Long Hauler" auf, der sich eigentlich auf lange Lastzüge bezieht, jetzt aber Menschen meinte, die eine Infektion einfach nicht überwinden konnten. Wochen, Monate lang ließen die Beschwerden zwar womöglich nach, doch das alte Leben mit Kraft und Freude am Dasein schien in weiter Ferne. Inzwischen sind rund 200 verschiedene Symptome bekannt, die unter "Post Covid" fallen und praktisch den ganzen Organismus betreffen, von einzelnen Organschäden bis zu einem allgemeinen Krankheitsgefühl und einer "Fatigue", also einem Erschöpfungszustand, der den Alltag zur Qual machen kann. Und weil das Bild so diffus ist, müssen sich die Patientinnen und Patienten oft genug noch den Vorwurf gefallen lassen – offen ausgesprochen oder hinter vorgehaltener Hand – sie würden sich alles womöglich nur einbilden, und die Beschwerden seien vielleicht doch nur "psychosomatisch". Doch kann man sich veränderte T-Zellen im lernfähigen Teil des Immunsystems oder eine erhöhte Zahl von Autoantikörpern, die sich gegen Gewebe des eigenen Körpers richten, herbeigrübeln?
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Und selbst wenn, bräuchte es auch für solche Fälle dringend Hilfe. Denn die Befunde sind "echt", auch wenn die Ursachen längst noch nicht feststehen. Die Vermutungen reichen von bleibenden niedrigen Viruslasten, womöglich auch nur Virusbestandteilen wie den berüchtigten "Spikes", den Andockstellen des Erregers, die irgendwo im Körper herumgeistern, bis zu ganz anderen Viren im Körper, die durch eine Sars-CoV-2-Infektion quasi "geweckt" wurden. Sicher gibt es auch nicht nur eine Erklärung, die für alle gleichermaßen zutrifft. Und auch bei Post Covid gibt es Risikofaktoren, die auch für den Verlauf einer akuten Infektion Bedeutung hatten: Wer etwa an Diabetes-2 leidet, hat auch ein erhöhtes Risiko für Post-Covid. Die deutlich höhere Post-Covid-Quote bei den Corona-Fällen, die im Krankenhaus behandelt werden mussten, zeigt den Zusammenhang der Risiken. Allerdings sind es keineswegs nur die Älteren, die mit Langzeitbeschwerden zu kämpfen haben. Auch Kinder und Jugendliche kann es betreffen, wie etwa eine dänische Studie zeigte, die bei dieser Altersgruppe ganz ähnliche Symptome fand wie bei den Erwachsenen, von Müdigkeit und Kurzatmigkeit bis zu Einbußen der Hirn- und Gedächtnisleistung. Aber auch hier fehlt es durchweg an verlässlichen Zahlen.
Covid-19 ist keineswegs nur eine Lungenkrankheit
Was diese Befunde bei uns und weltweit vor allem deutlich machen: Es braucht dringend Forschung auf diesem Gebiet und – eng damit verbunden – die Entwicklung von Behandlungsmöglichkeiten, die möglichst an der Wurzel des Problems angreifen. Derzeit aber gibt es erst wenige Pilotstudien, die zudem meist nur ein Symptom in den Blick nehmen, nicht aber das ganze Bild. Von einem dringend erforderlichen Dreifachansatz spricht darum die WHO, englisch vom Konzept der "3 R" – "Recognition, Research, Rehabilitation". Mit der "Recognition" ist die die Wahrnehmung und das Ernstnehmen der Patientinnen und Patienten gemeint, die nicht in einem auf solche Fälle unvorbereiteten Gesundheitssystem herumirren und letztlich allein gelassen werden dürfen. Schon deshalb ist der von Minister Lauterbach geplante "Runde Tisch" ein wichtiges Instrument. An dem müssen dann auch Fälle von "Post-Vac" behandelt werden. Denn auch die gibt es, wenn auch in weit geringerer Zahl: Menschen, die geimpft wurden und mit oder ohne vorausgehender oder nachfolgender Infektion an Symptomen leiden, die denen einer Post-Covid-Erkrankung sehr ähnlich sind. Auch hier ist es wichtig, die Krankheitsbilder ernst zu nehmen – wegen der Beschwerden natürlich ohnehin, aber auch, um darüber hinaus das Vertrauen in den Sinn und Nutzen von solchen Impfungen zu erhalten oder gar erst eine Basis dafür zu schaffen.
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Zweites "R": "Research" – Forschung also. Gerade erst zeigte sich, dass das Virus nicht nur über einen Rezeptor mit dem wissenschaftlichen Kurznamen "ACE-2" in den Organismus gelangt, sondern dass auch ein Rezeptor namens "TMEM106B" eine solche Infektion mit Sars-CoV-2 gestatten kann. Selbst bei den Grundlagen also ist längst nicht alles klar. Das gilt erst recht für die Wirkung des Virus und seiner Bestandteile auf nahezu jedes Organ und physiologische System des menschlichen Körpers bis hin zum Zentralnervensystem mit einem Symptom wie "Brain fog", bei dem der Kopf wie benebelt scheint. Covid-19 ist eben mitnichten "nur" eine Lungenkrankheit. Sind schon die kurzfristigen Folgen längst noch nicht ausgelotet, so gilt das noch mehr für die Langzeitwirkung einer Infektion mit dem Corona-Virus. Solche Nachwirkungen sind auch von anderen Erregern bekannt, also kein spezieller Fall. Doch hat jedes Virus eigene Angriffspunkte, die wiederum bedacht werden müssen, wenn es um die Entwicklung von Therapien und Medikamenten geht. Erfahrungsgemäß aber lässt das Interesse der Institute und der Industrie nach, scheint eine Pandemie erst einmal überwunden. Doch ist das Corona-Virus nicht verschwunden, auch wenn es vielen so scheint. Darum ist auch die Weiterentwicklung von Impfstoffen eine Forderung, die etwas mit Long Covid zu tun hat: Denn erst Vakzine, die auch eine kurz anhaltende Infektion verhindern, nicht nur eine schwere Erkrankung, schützen auch vor der Gefahr von Long Covid. Die jetzt angekündigten 20 Millionen Euro als Schwerpunkt im Innovationsfonds für entsprechende wissenschaftliche Projekte dürften da aber wohl kaum ausreichen. Selbst wenn 6,5 Millionen vom Bundesforschungsministerium dazugerechnet werden, die für die Long-Covid-Forschung seit 2021 zur Verfügung stehen. Zum Vergleich: Für denselben Zweck hatten die USA 2021 bereits über eine Milliarde Dollar bereitgestellt.
Das dritte "R": Rehabilitation. Diese Forderung der WHO erklärt sich von selbst, rundet ab, was für das gesamte Themenfeld gilt und von Lauterbach so formuliert wurde: "Die Long-Covid-Kranken erwarten zu Recht, dass wir uns um sie kümmern."
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