Kritik an Hospitalisierungsrate des RKI: Werte sind "viel zu niedrig"

Steigt der Wert, stagniert oder sinkt er? Lange war die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz der wichtige Faktor bei der Bewertung des Infektionsgeschehens in Deutschland. Er berechnete sich aus der Zahl der gemeldeten Neuinfektionen bezogen auf 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen. Mit steigender Impfquote verlor die Inzidenz jedoch an Aussagekraft. Geimpfte haben ein wesentlich geringeres Risiko für schwere Verläufe. Die Folge: Die Zahl der schwerkranken Covid-19-Patienten, die auf eine Behandlung im Krankenhaus angewiesen sind, fällt niedriger aus als bei vergleichbaren Inzidenzen im vergangenen Jahr.

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Künftig sollen sich daher alle Augen auf die Hospitalisierungsrate richten – das hatte der Bundestag in einer Neufassung des Infektionsschutzgesetzes kürzlich beschlossen. Klettert dieser Wert über eine kritische Schwelle – die einzeln von den Bundesländern festgelegt wird – könnten fortan wieder regional strengere Maßnahmen greifen. Einer Überlastung der Kliniken soll so vorgebeugt werden.

Im Gesetzestext heißt es: Wesentlicher Maßstab für weitergehende Schutzmaßnahmen soll "die Anzahl der in Bezug auf die Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) in ein Krankenhaus aufgenommenen Personen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen" sein. Erfasst werden Covid-19-Patienten, die auf eine Normalstation kommen, aber auch jene, die intensivpflichtig sind. 

Kritik an Rechenweg

Die Änderung des Infektionsschutzgesetzes, das auch weitere Neuerungen beinhaltet, soll am heutigen Mittwoch in Kraft treten. Die neue Hospitalisierungsrate sorgt aber für Kritik, genauer: die Art und Weise, wie sie berechnet wird. Wie unter anderem das Nachrichtenmagazin "Spiegel" berichtet, führe die vom Robert Koch-Institut (RKI) ausgewiesene Hospitalisierungsrate "in die Irre". Sie sei "viel zu niedrig". Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch eine Recherche der "Zeit": Die Belastung der Kliniken werde "systematisch und deutlich unterschätzt". Wie kann das sein?

Das RKI weist die bundesweite Hospitalisierungsrate in seinen Lageberichten täglich von Montag bis Freitag aus. Für den heutigen Mittwoch wird der Wert mit 1,88 Fällen pro 100.000 Einwohner angegeben. Die Rate ist also per se deutlich niedriger als die bisher übliche Sieben-Tage-Inzidenz, die derzeit mit 77,9 angegeben wird. Das ist zu erwarten und auch nicht der Grund für die Kritik, schließlich entwickeln nicht alle Covid-Patienten schwere Verläufe, die in einer Klinik behandelt werden müssen.

Tatsächlich bezieht sich der Wert aber nicht auf die Anzahl der Covid-19-Patienten je 100.000 Einwohner, die in den zurückliegenden sieben Tagen in einem Krankenhaus aufgenommen wurden – was, liest man die Formulierung im Gesetzestext, durchaus angenommen werden könnte. Stattdessen nutzt das RKI eine andere Berechnung: "Die 7-Tage-Inzidenz für Hospitalisierungen ist die als hospitalisiert übermittelte Zahl der Fälle über 7 Tage, geteilt durch die Einwohnerzahl und auf 100.000 Einwohner umgerechnet. Der Zeitraum betrifft das Meldedatum, also der Tag, an dem das Gesundheitsamt den Fall elektronisch erfasst hat", teilte das RKI auf Anfrage des stern mit.

Das bedeutet: In der aktuellen Klinik-Inzidenz werden Corona-Patienten berücksichtigt, die über einen Zeitraum von sieben Tagen bei einem Gesundheitsamt als positiv gemeldet wurden und in eine Klinik eingeliefert wurden. Patienten, die mehr als sieben Tage nach dem Meldeeingang beim Gesundheitsamt schwer erkranken und in eine Klinik müssen, werden in der tagesaktuellen Klinik-Inzidenz nicht erfasst. Der Vorwurf: Die tagesaktuellen Werte bilden damit nicht das realistische Geschehen in den Kliniken ab. Sie unterschätzen es.

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Der Anteil an Patienten, die zunächst aus der Statistik fallen, dürfte nicht zu vernachlässigen sein. Häufig beginnt eine Corona-Erkrankung zunächst mild und verschlechtert sich in den darauffolgenden Tagen. Das RKI weist auf einer Übersichtsseite selbst darauf hin, dass sich eine Infektion "meist in der zweiten Krankheitswoche" zu einer Lungenentzündung (Pneumonie) entwickeln kann. In einem RKI-Wochenbericht von Anfang September heißt es, dass Corona-Patienten "häufig erst ein bis zwei Wochen nach der Diagnose hospitalisiert werden". 

Zwar ist die Berechnung auf Basis des Meldedatums nicht falsch. Belastbare Daten ergeben sich jedoch erst für zurückliegende Wochen, wenn auch Nachmeldungen berücksichtigt werden. Dass die Diskrepanz mitunter groß ist, zeigt ein Vergleich der tagesaktuell gemeldeten Inzidenz mit der Inzidenz, die auch Nachmeldungen berücksichtigt. So meldete das RKI am 23. August zunächst eine Klinikrate von 1,28 Fällen je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen. Nachträglich wurde dieser Wert auf 2,50 korrigiert – und ist damit fast doppelt so hoch.

Kurve könnte falsch interpretiert werden

Auf dem Trends-Dashboard des RKI, das die Klinik-Inzidenz mit Nachmeldungen ausweist, gibt es zudem ein weiteres Problem. Die Inzidenzkurve knickt zum Ende hin ab, da Nachmeldungen für die jüngst zurückliegenden Tage noch fehlen. Der betroffene Bereich ist auf dem Dashboard grau hinterlegt. Die abfallende Kurve könnte den Anschein erwecken, die Klinik-Inzidenz sinke, dabei stieg sie in den vorausgehenden Wochen, in denen die Nachmeldungen vollständig sind, kontinuierlich an.

Dem RKI sind die Schwächen durchaus bewusst. Der Meldeverzug sei "nicht überraschend", teilte das RKI auf stern-Anfrage mit. Es gebe bei den Trends einen optischen Hinweis und eine Erläuterung. Darin heißt es: "Die letzten 14 Tage sind grau unterlegt, da durch Übermittlungsverzug die Werte in gewissem Maß unterschätzt werden können."

Warum wird die Klinik-Inzidenz nicht schlicht auf Basis der täglich gemeldeten Covid-19-Hospitalisierungen berechnet? Die Daten müssten vorliegen, da seit dem 13. Juli Krankenhäuser verpflichtet sind, alle Einweisungen von Covid-19-Patienten zu melden. Auch das RKI veröffentlicht den Wert in seinen tagesaktuellen Lageberichten. Das Plus im Vergleich zum Vortag liegt am heutigen Mittwoch bei 628 Fällen.

Doch offenbar bereiten die Daten Probleme. Auf Anfrage des stern teilte das RKI mit, dass das Meldedatum bei den Gesundheitsämtern für jeden übermittelten Fall vorliege, anders als das Hospitalisierungsdatum. Auf die Frage, welche Maßnahmen gegebenenfalls geplant seien, um die Zahl der Klinik-Inzidenz aussagekräftiger zu machen, ging das RKI nicht ein. 

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach äußerte auf Twitter sein Unverständnis über die Berechnung der Klinik-Inzidenz: "Die so enorm wichtige Hospitalisierungsrate wird systematisch durch Rechenfehler zu niedrig berechnet und meldet immer für die letzten Tage einen relativen Rückgang aufgrund eines Datenfehlers." Dies müsse das RKI ändern, das Problem sei seit Wochen bekannt, so Lauterbach.

Sehr wahrscheinlich wird das nicht die einzige Herausforderung in Bezug auf die Klinik-Inzidenz bleiben. Es ist Aufgabe der Länder, eigene Grenzwerte in Abhängigkeit zu den regionalen Krankenhauskapazitäten festzulegen. Allerdings fehlen bislang vielerorts fest definierte Schwellen, ab denen wieder strengere Maßnahmen greifen könnten.

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