Ich trage jetzt Brille. Ich bin jetzt eine von euch. Und wir werden immer mehr

Mein neunjähriges Ich würde Freudensprünge machen und sich dabei wieder irgendwas verrenken. Aber das wäre dieser jungen Version meiner Selbst egal, denn sie wäre überglücklich, jetzt Brille zu tragen. Es gab mal eine Phase, da wollte ich das unbedingt. Weil meine Nachbarinnen Brille trugen. Die waren ein paar Jahre älter als ich, bestimmt schon 15, quasi erwachsen, und vor allem wahnsinnig cool und klug und schön. Ich wollte sein wie sie.

"Blauer Blödsinn"


Braucht man eine spezielle Brille mit Blaulichtfilter?

Also kniff ich einen Urlaub an der Ostsee lang die Augen zusammen, wenn ich in der Ferne ein Pferd erkennen wollte, von dem ich längst wusste, wie es aussah. Ich dachte, damit könnte ich die Erwachsenen schon irgendwie überzeugen. Es brachte nichts. Es war auch ziemlich dumm und undankbar. Ich konnte damals gut sehen. Statt einer Brille bekam mein neunjähriges Ich dann eine Zahnspange.

Nieselregen mit Brille trübt Stimmung und Sicht

Heute bin ich 34, habe begradigte Zähne und neuerdings eine Brille. "Da hast du 16 Jahre länger ausgehalten als ich", sagt meine Mutter am Telefon, als ich ihr vom Sehtest erzähle. Der hat eine leichte Kurzsichtigkeit ergeben, auf dem rechten Auge -0.75 Dioptrien und auf dem linken -1.25. Dass meine Augen mit den Jahren schlechter geworden waren, machte sich schon seit Längerem bemerkbar. Erst als ich die Anzeigetafeln in der U-Bahn nur noch aus nächster Nähe lesen konnte, war klar, dass sich was ändern musste.

Jetzt trage ich Brille und es ist großartig. Wenn ich von meinem Laptop aufschaue, während ich das hier schreibe, kann ich jeden noch so kleinen Ast am Baum vor meinem Fenster ausmachen. Die Chancen sind massiv gestiegen, dass ich auch unter Zeitdruck in die richtige Bahn einsteige. Und Haut sieht jetzt wieder unrein aus. Schöne neue alte Welt.  

Manches nervt aber auch. Nieselregeln zum Beispiel. Der trübt jetzt nicht nur meine Stimmung, sondern auch meine Brillengläser. Die sind sowieso häufiger schmutzig, als erhofft. Küssen mit Brille? Schwierig. Masketragen auch. Aber wem erzähle ich das: Ich bin ja bei Weitem nicht die Einzige, die das betrifft. Wir sind ganz schön viele. 41,1 Millionen Menschen ab 16 Jahren in Deutschland tragen laut Allensbacher Brillenstudie aus dem Jahr 2019 eine Brille. Das sind zwei von drei Erwachsenen. Ein deutlicher Anstieg über die Jahrzehnte. Die Zahl der Brillenträger nimmt mit dem Alter zu – in der Gruppe ab 60 Jahren tragen über 90 Prozent der Menschen eine Brille – und unsere Gesellschaft wird älter.

Zwei Stunden bei Tageslicht im Freien spielen

Auch mehr als jeder Dritte in seinen Zwanzigern trägt heute bereits eine Brille. Bei jungen Menschen würden Wissenschaftler einen direkten Zusammenhang zwischen ausdauerndem "Nahsehen" und einer Zunahme der Kurzsichtigkeit sehen, schreibt das Kuratorium Gutes Sehen. Viel Zeit am Bildschirm oder Smartphone fordere die Augen in besonderer Weise heraus.

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Ludger Wollring, Pressesprecher beim Berufsverband der Augenärzte Deutschlands, weist darauf hin, dass insbesondere die Kurzsichtigkeit einerseits auf vererbte Faktoren zurückgehe, andererseits auf die Seherfahrung in der Kindheit. Wenn schon Kinder über längere Zeit auf Objekte nah vor ihren Augen schauen – auf Bildschirme von Smartphones und Tablets oder auf Bücher – rege dies das Wachstum des Augapfels an. Und ein im Verhältnis zur Brechkraft des Auges "zu langer" Augapfel sei kurzsichtig. Was laut Wollring hilft: Rausgehen. Kinder, die täglich mindestens zwei Stunden bei Tageslicht im Freien spielen, seien besser vor der Entwicklung einer Kurzsichtigkeit geschützt.

Die Brille als Accessoire

Ich gehöre jetzt also auch zur Mehrheit der Brillenträger. Kontaktlinsen tragen laut Allensbacher Brillenstudie übrigens circa 5,5 Prozent der Menschen in Deutschland ab 16 Jahren. Brillen sind beliebt. Die Brille als Teil der Selbstinszenierung in den sozialen Netzwerken. Die Brille als Accessoire. Von Accessoire sprach die Optikerin mehrfach, während ich diverse runde Modelle und solche in Schmetterlingsform anprobierte und auch ein eckiges (und das schnell wieder weglegte). Diese Accessoires können mitunter teuer werden: Die Krankenkasse übernimmt die Kosten für Brillengläser nur in seltenen Fällen. Manchmal beteiligt sich der Arbeitgeber. Es kann sich lohnen, da mal nach nachzufragen. 

Schon nach der ersten Woche mit Brille komme ich mir ohne recht verloren vor. Ich habe mich für eines dieser runden Modelle mit durchsichtigem Rand entschieden, die gerade viele tragen. Auch Brillen folgen Trends. Und ich offensichtlich einem dieser Trends. Ich mag meine Brille. Ich glaube, meinem neunjährigen Ich würde sie auch gefallen.

Quellen: Allensbacher Brillenstudie, Berufsverband der Augenärzte Deutschlands, Kuratorium Gutes Sehen, Deutschlandfunk Nova, Verbraucherzentrale

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