Frank Beckert war ein erfolgreicher Geschäftsmann, Chef einer Softwarefirma. Dann starb sein Sohn. Wie er den Boden unter den Füßen verlor, Neues ausprobierte, scheiterte und sich die Frage stellte: Was will ich eigentlich? erzählt er im Gespräch mit FOCUS online.
Christian Beckert war zum Zeitpunkt seines Todes 20 Jahre alt. Wenige Tage zuvor hatte er mit Freunden beim Pokern und Rauchen seinen Geburtstag gefeiert. „Es war eine riesige Party. Alle Verwandten waren da“, sagt sein Vater Frank Beckert im Gespräch mit FOCUS online.
Christian Beckert litt an Knochenkrebs. Die Diagnose erhielt er drei Jahre vor seinem Tod. Damals spielte er Inlinehockey. Das ist eine Sportart, die ein bisschen wie Eishockey aussieht. Zwei Mannschaften mit je fünf Spielern und einem Torwart treten gegeneinander an.
Christian liebte den Sport. Dann kamen die Schmerzen. Im Herbst 2007, so erzählt es sein Vater, klagte er über ein Stechen in der Schulter. Christian ging zum Hausarzt, der ihm Schmerzmittel verschrieb. Sein Zustand verbesserte sich nicht. Wochen später suchte er einen Facharzt auf.
„Ich war überzeugt, dass er das überleben wird“
„Ich war gerade im Urlaub, mit meiner zweiten Frau. Als ich an der Strandpromenade stand, klingelte das Telefon. Es war Christian“, erinnert sich Beckert, der damals eine Softwarefirma leitete. „Er sagte, dass man einen Tumor in seiner Schulter gefunden hätte.“
Beckert wusste nicht, wie er reagieren sollte. Heute findet er seine Antwort absurd. „Ich sagte: Christian, wir kriegen das schon wieder hin. Ich war davon überzeugt, dass er das schon überleben wird.“
Die Ärzte hatten ein so genanntes „Ewing-Sarkom“ entdeckt. Das ist ein solider, bösartiger Tumor, der im Kindes- und Jugendalter auftritt. Ein Ewing-Sarkom kann in jedem Knochen entstehen. Bei Christian befand sich die bösartige Geschwulst in der Schulter.
Nach Angaben der „Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH)“ sind Ewing-Sarkome die zweithäufigsten Knochentumore bei Kindern und Jugendlichen. Sie machen insgesamt etwa zwei Prozent aller Krebserkrankungen in dieser Altersgruppe aus.
Warum sie entstehen, ist unbekannt. Weder äußere Faktoren noch genetische Aspekte scheinen eine Rolle zu spielen, heißt es im Bericht der GPOH. Ewing-Sarkome sind gefährlich, weil sie im Vergleich zu anderen Krebsarten schnell wachsen und früh Metastasen bilden.
„Christian wollte zeigen: Mich macht das nicht kaputt“
Christian wurde in der Universitätsklinik Münster behandelt, erzählt Beckert. Er bekam Bestrahlungen, musste Medikamente nehmen. „Ich wollte einfach nur für meinen Sohn da sein. Wir mussten versuchen, irgendwie mit der Krankheit umzugehen.“
Christian sei ein Stehaufmännchen gewesen, sagt Beckert. Positiv. Optimistisch. Voller Lebenslust. Er wollte nicht sterben. Er versuchte, „sich über den Krebs hinwegzusetzen“, lebte weiter und kämpfte gegen die Krankheit an.
„Es gab eine Phase, da dachten wir, wir hätten es geschafft. Es hieß, der Krebs sei zum Stillstand gekommen“, sagt Beckert. Doch die Erleichterung währte nur kurz, bei Christian wurden erneut bösartige Zellen gefunden.
Nach Angaben der GPOH erleiden auch heute noch 30 bis 40 Prozent der Menschen mit Ewing-Sarkom einen Rückfall. Auf der Webseite der „Deutschen Krebshilfe“ ist zu lesen, dass Betroffene eine deutlich schlechtere Heilungschance haben als andere Krebspatienten.
Christian, dem bereits das Schultergelenk entfernt worden war, stand eine Amputation bevor. Er würde seinen rechten Arm verlieren. Das war Ende 2009. „Er wollte keine Hilfsmittel, keinen Knauf im Auto, kein besonderes Brettchen. Er wollte zeigen: Mich macht das nicht kaputt“, sagt Beckert.
Der Sonne und dem Tod ins Auge sehen: … und das Unfassbare akzeptieren!
„Ich habe in sein Gesicht geschaut und wusste: Irgendetwas stimmt nicht“
Inlinehockey konnte der damals 19-Jährige nicht mehr spielen. Also wurde er Trainer. Wegen der vielen Operationen konnte er kaum noch zur Schule gehen. Also holte er den Unterricht im Krankenhaus nach.
Anfang 2010 dann die Amputation. „Wir dachten, jetzt wird alles besser. Vieles sah gut aus“, sagt Beckert. „Aber dann kam diese Nachuntersuchung. Ich habe dem Arzt ins Gesicht geschaut und wusste sofort: Irgendetwas stimmt nicht.“
Beckert hört die Worte des Arztes noch so deutlich, als wäre es gestern gewesen. „Bitte setzen Sie sich.“ Dann sagte der Arzt, was kein Elternteil, kein Angehöriger, kein Betroffener je hören möchte. Der Krebs hat gestreut. Keine Behandlung mehr möglich.
Beckert war mit Christian allein. Er und seine Ex-Frau wechselten sich bei den Arztterminen ab, mal ging er mit, mal sie. Beckert war dabei, als Christian sein Todesurteil erhielt. Er erinnert sich an die Reaktion seines Sohnes. Genauer gesagt, an seine Frage: „Wie lange habe ich noch?“
„Als er starb, waren wir alle bei ihm“
Prognosen sind in solchen Situationen immer schwierig. Das erklärte der Arzt auch Christian. Trotzdem gab er dem 19-Jährigen eine ungefähre Einschätzung: drei Monate.
„Im Auto haben wir überlegt, wie wir Christians Mutter die schlechte Nachricht beibringen“, sagt Beckert. „Und wir haben überlegt, wie wir diese drei Monate gestalten wollen. Christian hat eine Liste mit 20 Punkten geschrieben.“
Darauf standen Dinge wie: Reisen, ein eigenes Auto fahren, ins Casino gehen. Am 20. Juli 2010 wollte Christian seinen Geburtstag feiern. Groß, laut, bunt. Mit all seinen Freunden und seiner Familie. Und das tat er auch. Vielleicht war es Christians letzter guter Tag.
„Danach ist er in sich zusammengefallen“, sagt Beckert. „Er konnte keine Treppen mehr steigen, saß und schlief nur noch im Rollstuhl. Als es zu Ende ging, war die ganze Familie bei ihm, wir haben Kerzen angezündet, viel geweint. Aber wir waren alle da.“ Christian starb am 29. Juli 2010 zu Hause im Wohnzimmer.
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Dann begann alles, auseinanderzufallen
Beckert hatte noch nie einen Toten berührt. Auch mit schweren Krankheiten hatte er vor Christian wenig Erfahrung. Und doch trug er Christians Leiche nach oben in sein Zimmer, zog ihm schöne Sachen an, setzte ihm seine Kappe auf.
Den Bestatter rief er erst am nächsten Tag an. Vorher kamen Omas, Opas, Freunde und Bekannte, um sich von dem 20-Jährigen zu verabschieden. Beckert ging mit ihnen nach oben, es war schön, aber auch schmerzhaft.
„Am späten Nachmittag kam der Bestatter. Wir warteten draußen in der Einfahrt, bis er und seine Kollegen den Sarg ins Auto legten und langsam wegfuhren. Es war würdevoll.“ Tage später dann die Beerdigung. Die Kirche platzte aus allen Nähten, erzählt Beckert.
Vor dem Haus von Christians Familie stand ein Zelt. „Dort haben wir uns nach der Beerdigung versammelt und noch einmal in Erinnerungen geschwelgt“, sagt der heute 58-Jährige. Danach begannen die Dinge, auseinanderzufallen.
„Christian und ich hatten viel über den Tod gesprochen“
Beckert berichtet von einer „Mauer des Schweigens“, die sich in der nordrhein-westfälischen Gemeinde, in der er mit seiner Familie lebt, aufgebaut habe. Kaum jemand habe mit ihm und seinen Angehörigen sprechen wollen, kaum jemand sei auf sie zugegangen.
„Die Leute haben teilweise die Straßenseite gewechselt“, sagt er. Beckert glaubt, dass viele Menschen nicht wissen, wie sie mit dem Tod umgehen sollen. Und dass es ihnen deshalb schwerfällt, auf Menschen zuzugehen, die gerade einen Verlust erlitten haben.
Nach Christians Tod funktionierte Beckert, aber nicht mehr richtig. Er verlor seinen Job als Geschäftsführer einer Softwarefirma. Er wollte Bürgermeister der Gemeinde in Nordrhein-Westfalen werden, in der er mit seiner Familie lebt. Der Versuch scheiterte.
„Christian und ich haben viel über den Tod gesprochen. Ein Satz, den er am Ende sagte, war: ‚Papa, ich habe es bald hinter mir. Aber ihr habt es noch vor euch. Ihr müsst gucken, wie ihr damit klarkommt.‘ Das war wahrscheinlich fürsorglich gemeint. Es hat lange gedauert, bis ich diesen Satz verstanden habe“, sagt Beckert.
Beckert arbeitet heute als Trauerredner
Er dachte viel über Christians Tod nach, stellte sich die Sinnfrage, was war seine Aufgabe, was wollte er im Leben bewirken? Beckert spielte oft mit dem Gedanken, Trauerredner zu werden. Eines Tages stieß er auf eine Facebook-Anzeige: „Ausbildung zum Trauerredner“.
Beckert hatte die 2000 Euro nicht übrig, also lieh er sich Geld von seinem Vater. Und machte die Ausbildung. Heute, rund vier Jahre später, arbeitet er hauptberuflich als Trauerredner. Gerade hat er eine Online-Schule für Trauerredner eröffnet.
Der 58-Jährige sagt von sich, er sei heute glücklicher als noch vor ein paar Jahren. Vor allem beruflich. „Früher ging es um Umsatz, um Menge“, sagt er. „Aber im Verkauf von Lizenzen habe ich irgendwann keinen richtigen Lebenssinn mehr entdecken können.“ Christians Tod hat ihn für immer verändert.
Wenn er an sich und seinen Umgang mit dem Verlust eines geliebten Menschen denkt und Trauernden einen Rat geben soll, sagt Beckert: „Mir hat es geholfen, darüber zu reden. Sich nicht zu verschließen. Man kann nicht warten, bis jemand von außen kommt. Leider.“
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