SARS-CoV-2: Vermehrung in den oberen Atemwegen
Laut einer neuen Studie vermehrt sich das Coronavirus SARS-CoV-2 in den oberen Atemwegen deutlich effizienter als in den unteren Atemwegen. Auch die Temperatur spielt bei der Ausbreitung eine wichtige Rolle. Die neuen Erkenntnisse könnten erklären, warum der neue Erreger leichter übertragen wird als SARS-CoV.
Was passiert in unseren Atemwegen nach einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2? Schweizer Forschende des Instituts für Infektionskrankheiten (IFIK) der Universität Bern und des eidgenössischen Instituts für Virologie und Immunologie (IVI) konnten nun aufzeigen, wie sich das Virus in den Atemwegen vermehrt und wie die dortige angeborene Immunantwort reagiert. Die Erkenntnisse können dazu dienen, antivirale Medikamente und präventive Maßnahmen zu entwickeln.
Ähnlichkeiten und Unterschiede
Das Coronavirus SARS-CoV-2, das die Krankheit COVID-19 verursacht, tauchte erstmals Ende 2019 auf. Seitdem hat es weltweit zu über 130 Millionen Ansteckungen und mehr als 2,8 Millionen Todesfällen geführt.
SARS-CoV-2 ist ein enger Verwandter von SARS-CoV, einem anderen Coronavirus, das während eines Ausbruchs in den Jahren 2002-2003 zu 8.400 Ansteckungen und 800 Todesfällen führte.
„SARS-CoV-2 und SARS-CoV sind sich genetisch sehr ähnlich und benutzen denselben Rezeptor, um menschliche Zellen zu infizieren. Doch trotz dieser Ähnlichkeiten gibt es auch wichtige Unterschiede zwischen den beiden Viren“, erklärt Ronald Dijkman vom Institut für Infektionskrankheiten (IFIK) der Universität Bern in einer Mitteilung.
So zeichnet sich eine Infektion mit SARS-CoV durch eine schwere Erkrankung und Entzündung der unteren Atemwege aus, und Infizierte sind erst nach dem Auftreten von Symptomen ansteckend, was die Identifizierung und Unterbrechung von Infektionsketten erleichtert.
Im Gegensatz dazu vermehrt sich SARS-CoV-2 bevorzugt in den oberen Atemwegen (Nasenhöhle, Rachen, Luftröhre) und kann leicht von einer Person zu einer anderen übertragen werden, bevor Krankheitssymptome auftreten.
Zudem ist der Verlauf einer Infektion mit SARS-CoV-2 individuell sehr unterschiedlich und kann sich als asymptomatische, leichte oder schwere Erkrankung bis hin zu Multiorganversagen manifestieren.
Temperatur spielt eine wichtige Rolle
Um besser zu verstehen, warum zwei so ähnliche Viren zu so unterschiedlichen Krankheitsbildern führen können, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IFIK der Universität Bern und des Instituts für Infektiologie und Virologie spezielle Kulturen von menschlichen Atemwegszellen verwendet.
Diese Zellkulturen stammen aus menschlichen Proben und ahmen die Komplexität der Zellen im Atemtrakt nach: sie wachsen in speziellen Behältern, in denen sie von der Unterseite ernährt und auf der Oberseite der Luft ausgesetzt werden – genau wie die Zellen in der menschlichen Luftröhre.
Wie die echte Luftröhre produzieren die Kulturen auch Schleim und haben Flimmerhärchen, die sich sehr schnell bewegen. „Weil die Struktur der Zellen in diesem Modell derjenigen im menschlichen Gewebe so ähnlich ist, ist dieses Modell ein relevantes System, um im Labor Atemwegsviren zu untersuchen“, so Dijkman.
Dieses bereits bestehende Modell haben die Forscherinnen und Forscher jetzt erstmals eingesetzt, um die Auswirkungen der Atemwegstemperaturen auf die Vermehrung von SARS-CoV und SARS-CoV-2 zu untersuchen.
Sie stellten fest, dass die Temperatur eine wichtige Rolle spielt, weil SARS-CoV-2 sich bevorzugt bei Temperaturen vermehrt, wie sie typischerweise in den oberen Atemwegen herrschen (33°C). Bei diesen kühleren Inkubationstemperaturen konnte sich das Virus schneller und in höherem Maße vermehren als bei Infektionen, die bei 37 Grad Celsius ausgelöst wurden, um die Umgebung in den unteren Atemwegen nachzubilden.
Im Gegensatz zu SARS-CoV-2 vermehrte sich SARS-CoV nicht schneller durch kühlere Inkubationstemperaturen.
Überschießende Immunreaktion möglich
Das Forschungsteam analysierte in der im Fachmagazin „PLOS Biology“ veröffentlichten Studie auch, welche Gene nach einer Infektion mit SARS-CoV und SARS-CoV-2 ein- und ausgeschaltet werden, um zu verstehen, wie Zellen des menschlichen Atemtrakts auf eine Infektion reagieren und welche angeborenen Immunprogramme aktiviert werden.
Das angeborene Immunsystem ist die „erste Verteidigungslinie“ unseres Körpers gegen eindringende Krankheitserreger und ist nicht nur entscheidend, um diese zu bekämpfen, sondern auch um andere Teile des Immunsystems zu „trainieren“, damit sie angemessen reagieren können.
Bei der Nachahmung der Bedingungen in den oberen Atemwegen (33°C) stellten die Forschenden fest, dass die Infektion mit SARS-CoV-2 die angeborene Immunantwort der Epithelzellen – der Zellschicht auf der Innenseite der Luftröhre – nicht so stark stimulierte wie bei der Nachahmung der Bedingungen in den unteren Atemwegen (37°C).
„Da die Stärke der Immunantwort den Grad der Virusvermehrung direkt beeinflussen kann, könnte dies erklären, warum sich SARS-CoV-2 bei niedrigeren Temperaturen effizienter ausbreitet“, erläutert Dijkman.
Bei 37 Grad Celsius, wie sie in den unteren Atemwegen herrschen, wurde das angeborene Immunantwort der Epithelzellen stärker stimuliert und das Virus effizienter bekämpft. Dort kann es aber zu einer überschießenden angeborenen Immunreaktion kommen.
Diese kann sich wiederum nachteilig auf eine infizierte Person auswirken, weil hohe Entzündungswerte Gewebeschäden auslösen und das Fortschreiten der Krankheit beschleunigen können. Dieses Phänomen ist bei schweren COVID-19-Fällen zu beobachten.
Neue Möglichkeiten für präventive Maßnahmen
„Die detaillierte Analyse der Vermehrung von SARS-CoV-2 und der temperaturbedingten Unterschiede in der angeborenen Immunabwehr könnten erklären, warum sich SARS-CoV-2 so gut in den oberen Atemwegen ausbreitet und warum es leichter übertragen wird als SARS-CoV“, sagt Dijkman.
„Unser System bietet Einblicke in den molekularen Kampf, der während einer Infektion zwischen Virus und Wirt stattfindet, und unterstreicht die Bedeutung subtiler Veränderungen in der Mikroumgebung zwischen Virus und Wirt, welche die Virusvermehrung beeinflussen können“, erklärt Dijkman.
Das Verständnis davon, welche Schlüsselfaktoren an diesem Prozess beteiligt sind und ob sie den Wirt oder das Virus begünstigen, eröffnet laut den Fachleuten neue Möglichkeiten für gezielte präventive Maßnahmen oder die Entwicklung neuartiger pharmazeutischer Wirkstoffe zur Bekämpfung von Coronavirus-Infektionen. (ad)
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