90 Prozent aller Covid-19-Opfer sterben an einer Blutvergiftung

Häufig unterschätzte, oft tödliche Komplikation: An einer Sepsis starben auch 90 Prozent aller Covid-Opfer.

Der rote Strich am Arm, der langsam Richtung Herz wandert – er ist es nicht. Was landläufig als typisches Zeichen für eine Blutvergiftung angesehen wird, hat mit Sepsis wenig zu tun. Das Allgemeinwissen über die häufige und lebensbedrohliche Komplikation ist gering, und die Folgen der Unwissenheit können verheerend sein.

Alle sieben Minuten stirbt in Deutschland ein Mensch aufgrund einer Sepsis. Mit geschätzt 100.000 Todesfällen pro Jahr ist sie die dritthäufigste Todesursache. „Frühzeitiges Erkennen und schnellere Intervention könnten viele Tote und zahlreiche gravierende Spätfolgen verhindern“, sagt Konrad Reinhart, Intensivmediziner und Vorsitzender der Sepsis-Stiftung. Ohne Behandlung verläuft eine Sepsis tödlich. Treten die ersten Symptome auf, muss es zügig gehen. Mit jeder Stunde sinkt die Überlebenswahrscheinlichkeit. „Die Uhr tickt für die Patienten unglaublich schnell“, weiß Reinhart.

Hauptursache: Lungenentzündung

Wundinfektionen sind nur in rund neun Prozent der Fälle der Auslöser. Die Komplikation entwickelt sich in vier von zehn Fällen aus einer Lungenentzündung. Weitere Ursachen sind Erkrankungen im Bauchraum wie Entzündungen des Blinddarms, der Nieren oder der Harnwege. „Nahezu jede Infektionskrankheit kann zu einer Sepsis führen, auch zunächst scheinbar harmlose“, betont Intensivmediziner Reinhart. Dies gilt auch für Grippe oder Covid-19. Rund 90 Prozent der Covid-Toten starben letztlich an einer Sepsis.

  • Lesen Sie auch: Erste Daten zur Omikron-Sterblichkeit überraschen

Manche Anzeichen ähneln denen einer Grippe: Fieber, Schüttelfrost, Husten, Atembeschwerden und ein starkes Krankheitsgefühl. Eine Sepsis geht jedoch nicht unbedingt mit Fieber einher, es kann sogar Untertemperatur vorliegen. Alarmierend ist, wenn der Erkrankte plötzlich verwirrt oder apathisch erscheint. Oder schwer und schnell atmet, mit mehr als 20 Atemzügen pro Minute. Oder wenn der Blutdruck deutlich fällt. „Bei einem dieser Zeichen in Zusammenhang mit einer Infektion sollte sofort der Notruf 112 benachrichtigt werden“, appelliert Reinhart. „Verschlechtert sich der Zustand eines Erkrankten plötzlich, denken Sie daran, dass es eine Sepsis sein könnte. Und fragen Sie im Rettungswagen und in der Notaufnahme: Könnte es eine Sepsis sein?“

Blutvergiftung ist die umgangssprachliche Bezeichnung, Sepsis der medizinische Begriff. Beide beschreiben dieselbe Komplikation: Eine Infektion generalisiert und verläuft durch die hervorgerufenen Entzündungsreaktionen so schwer, dass diese auch andere Organe – Gehirn, Lunge, Herz, Leber, Nieren – sowie die Blutgerinnung schädigt. „Sepsis ist Chaos im System“, sagt Mathias Pletz, Institutsdirektor für Infektionsmedizin am Uniklinikum Jena. Der Kampf zwischen Erreger und Immunsystem bleibt nicht auf seine Eintrittspforte beschränkt, sondern breitet sich im ganzen Körper aus.

Es tobt der Sturm der Zytokine

Normalerweise ist das Immunsystem perfekt austariert – auf jedes Anschalten folgt ein Abschalten. Ist der Erreger vernichtet oder droht die Entzündungsreaktion aus dem Ruder zu laufen, werden die aggressiven Immunzellen gebremst. Dieses Zusammenspiel geht bei einer Sepsis verloren. Sobald Bakterien, Viren oder Pilze in den Körper eindringen, schickt das Immunsystem Fresszellen los. Sie sind vollgepackt mit Enzymen, welche den Erreger unschädlich machen, aber auch Gewebe zerstören. Die Fresszellen setzen zudem Warnsubstanzen ab, die sogenannten Zytokine, die Abwehrzellen aus der zweiten Verteidigungslinie anlocken. Nehmen diese Botenstoffe jedoch überhand, aktiviert dies zu viele Abwehrzellen, die sich dann in alle Richtungen ausbreiten. Es tobt der auch bei Covid-Erkrankungen gefürchtete Zytokinsturm.

  • Auch spannend: Mutter erzählt: Eine Sepsis tötete mein Baby – und dann beinahe auch mich

Die Immunreaktion klingt nicht mehr ab und schädigt Blutgefäße und Organe. „Das Zusammenspiel von Gasgeben und Abbremsen funktioniert nicht mehr, die Infektion eskaliert zur Sepsis“, erläutert Infektionsmediziner Pletz.

Jede Stunde zählt

Wie bei Herzinfarkt und Schlaganfall ist die Behandlung von Sepsis ein Wettlauf gegen die Zeit. Bei einem Verdacht auf bakteriell verursachte Infektionen erhöht die schnelle Gabe eines Antibiotikums die Überlebenschancen. Chirurgische Eingriffe können Infektionsherde beseitigen, etwa den entzündeten Blinddarm, die eitrige Gallenblase oder die infizierte Herzklappe. Erfolgt die Operation nicht innerhalb von sechs Stunden, verdoppelt sich die Sterblichkeit. Zudem sind Infusionen mit Flüssigkeit sowie Medikamente zur Stabilisierung des Kreislaufs wichtig, damit die Organe wieder ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden. „Kommen diese Therapieschritte standardmäßig zeitnah zum Einsatz, überleben deutlich mehr Sepsis-Patienten“, weiß Intensivmediziner Reinhart.

Manche Impfungen schützen

Einige Impfungen können schützen. Wundstarrkrampf ist eine von vielen Infektionskrankheiten, die zur Sepsis führen können. Davor bewahrt das Tetanus-Vakzin. „Zur gezielten Minimierung des Sepsis-Risikos ist der Schutz vor Infektionen der Lunge zentral“, sagt Infektiologe Pletz. „Impfungen gegen Pneumokokken, Influenza und Sars-CoV-2 gewährleisten dies.“

Die Pneumokokken-Pneumonie verläuft oft schwer, vor allem bei älteren Menschen, und ist eine häufige Sepsis-Ursache. Die virale Grippe zieht nicht selten eine bakterielle Infektion nach sich. Solche Superinfektionen können heftige, unkontrollierbare Immunantworten auslösen. Auch wenn die Vakzine nicht zu 100 Prozent vor Erkrankung schützen, mildern sie die Krankheitsschwere, senken die Komplikationsrate und auch die Sterblichkeit. „Die Antikörper und Abwehrzellen aus der zweiten Verteidigungslinie sind durch die Impfung aktiviert“, erklärt Pletz.

  • Das könnte Sie ebenfalls interessieren: Jährlich sterben 100.000 Deutsche an Sepsis: Diese Anzeichen dürfen Sie nie ignorieren

„Sie fangen die Erreger frühzeitig und effektiv ab, ohne dabei Organe in Mitleidenschaft zu ziehen.“ Der Impfschutz gegen Meningokokken ist eine weitere wichtige Präventionsmaßnahme. Eine durch den Erreger ausgelöste Hirnhautentzündung verläuft häufig äußerst aggressiv. Verursacht sie eine Sepsis, die nicht rechtzeitig erkannt wird, kann der Patient innerhalb von Stunden versterben.

Und der rote Strich am Arm? Er ist nicht das Zeichen einer Blutvergiftung, sondern zeigt die Entzündung einer Lymphbahn an. Unbehandelt kann manchmal auch sie eskalieren – zu einer Sepsis.  

Sehen Sie im Video:

 

Quelle: Den ganzen Artikel lesen