Die Creme muss schuld sein, das ist der Verdacht der Frau. Ihre Probleme beginnen, kurz nachdem sie auf eine neue Feuchtigkeitslotion auf Olivenbasis umgestiegen ist. Nach wenigen Wochen hat sie auch ohne Eincremen das Gefühl, dass eine gelartige Substanz in ihren Körper eindringt. Etwas scheint auf ihrer Haut zu kleben.
Gleichzeitig weiß die 59-Jährige, dass die Gefühle nichts mit der Realität zu tun haben. Sie hat keine Creme aufgetragen, ihre Haut ist frei von klebrigen Substanzen. Um die Beschwerden abzuklären, sucht die Frau Hilfe in einer Notaufnahme. Dort inspizieren Dermatologen ihre Haut. Ohne etwas zu entdecken, schicken sie die Frau wieder nach Hause. Doch die Probleme bleiben, monatelang.
Innerhalb der folgenden drei Jahre treiben die Wahrnehmungsstörungen die Frau zehn weitere Male in eine Notaufnahme, die Reaktionen der Ärzte frustrieren sie zunehmend. Die Mediziner gehen davon aus, dass ihre Patientin unter Wahnvorstellungen leidet. Mehrmals will ihr Hausarzt die Frau zu einem Psychiater oder psychologischen Dienst überweisen, doch sie lehnt ab. „Ich bin nicht wahnhaft“, sagt sie.
Tatsächlich wirkt die Patientin bei allen Arztbesuchen zurechnungsfähig. Sie wurde noch nie wegen einer psychischen Erkrankung behandelt, trinkt nur gelegentlich Alkohol und nimmt keine psychiatrischen Medikamente, berichten Ärzte der University Cambridge im Fachjournal „BMJ Case Reports“.
Wahnvorstellungen und dann auch noch Inkontinenz?
Über die Zeit entwickelt die Frau immer weitere körperliche Beschwerden. Zu den Wahrnehmungsstörungen kommen Rückenschmerzen. Sie fällt mehrmals hin, weil ihr rechtes Bein plötzlich nachgibt. Die Schwäche erschwert auch das Gehen. Hinzu kommt, dass sie phasenweise weder Stuhl noch Urin halten kann. Zum ersten Mal erwägen die Mediziner, dass die Patientin ein neurologisches Problem haben könnte und der Ursprung im Rückenmark liegt.
Ihr Verdacht: Cauda-Equina-Syndrom. Bei der Krankheit ist im unteren Teil der Wirbelsäule der Kanal für das Rückenmark etwa durch eine verrutschte Bandscheide so sehr verengt, dass die Nervenfasern gequetscht und im schlimmsten Fall beschädigt werden. Zu den Folgen zählen neben starken Rückenschmerzen auch Wahrnehmungsstörungen rund um die Oberschenkel und Inkontinenz.
Die Ärzte ordnen ein MRT der Lendenwirbelsäule an. Die Bilder geben jedoch Entwarnung. Wieder entlassen die Mediziner ihre Patientin ohne eine Erklärung für ihre Probleme. Als die Beschwerden weiter fortschreiten, die Frau durchgehend Schwierigkeiten beim Urinieren entwickelt, ihre Fingerfertigkeit nachlässt, die Beine versteifen und starke Nackenschmerzen einsetzen, überweist sie ein Arzt an eine neurochirurgische Praxis.
Leidet die Frau möglicherweise doch unter einer Erkrankung der Wirbelsäule, vielleicht aber nicht im vermuteten unteren Bereich?
Körper wie eine nasse, gelartige Substanz
Als die mittlerweile 62-Jährige in der Praxis eintrifft, kann sie ihr Leben in ihrem Einpersonenhaushalt kaum noch selbstständig meistern. Beim Gehen wirkt sie unkoordiniert, ihr fehlt Kraft in den Händen. Zu diesem Zeitpunkt reichen die Wahrnehmungsstörungen vom Hals abwärts, Hände und Leistengegend sind besonders betroffen. Ihr Körper fühle sich an wie eine nasse, gelartige Substanz an, erzählt die Frau.
Die Mediziner ordnen weitere MRT-Aufnahmen auf – dieses Mal von der kompletten Wirbelsäule. Die Bilder zeigen sofort, was der Frau seit drei Jahren fehlt. Sie leidet tatsächlich unter einem extremen Engpass im Wirbelkanal, in dem das Rückenmark verläuft. Die Stelle liegt allerdings nicht am unteren Ende der Wirbelsäule, sondern ganz oben am Hals.
Das Rückenmark der Frau ist im Halsbereich extrem gequetscht.
Dort wölbt sich eine Bandscheibe, die eigentlich zwei Halswirbel voneinander trennt, so sehr ins Innere, dass sie auf das Rückenmark drückt. Etwas weiter unten, ebenfalls im Bereich der Halswirbelsäule, hat sich noch eine zweite Bandscheibe in den Wirbelkanal geschoben, der Engpass ist aber vergleichsweise gering.
Für die Ärzte steht fest: Die Patientin muss operiert werden. Mithilfe eines kleinen Schnitts an der Vorderseite des Halses bahnen sich die Neurochirurgen einen Weg zur Wirbelsäule. Dort entfernen sie die Bandscheibe, die auf das Rückenmark drückt, und ersetzen sie durch Implantate. Die Frau erholt sich gut, ihre Wunden heilen.
Nach neun Monaten haben sich die Wahrnehmungsstörungen verbessert, sind aber nicht ganz verschwunden. Die Frau hat die Kraft in der Hand zurückgewonnen, sie kann ihre Finger wieder präzise bewegen, die Blase kontrollieren und auch besser gehen. Dass sich die Beschwerden komplett zurückbilden, sei jedoch unwahrscheinlich, schreiben die Mediziner. Die Operation verhindert zwar, dass die Erkrankung fortschreitet, kann vorhandene Nervenschäden aber nicht rückgängig machen.
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