Es gibt Menschen, die Beziehungen zu mehreren Personen führen. Sie leben polyamor. Paartherapeutin Anna Holfeld kennt sich mit dem Modell, aber auch anderen Beziehungsfragen aus. Warum Paare zu ihr kommen und Eifersucht ein Dauerbrenner ist.
FOCUS online: Frau Holfeld, was sind die ungewöhnlichsten Beziehungskonstellationen, mit denen Sie als Paartherapeutin bisher zu tun hatten?
Anna Holfeld: Ungewöhnlich ist alles, was nicht heteronormativ oder monogam ist. Es gab ein Paar, das sehr alt war, beide über 70. Er ist mit einer 83-Jährigen fremdgegangen und ich dachte: Das hört nie auf! Sie hat ihm den Wohnungsschlüssel weggenommen und in der Therapie wiedergegeben. Aber das meinen Sie wahrscheinlich nicht. Eher so etwas wie Polyamorie.
Genau. Betreuen Sie auch polyamore Paare?
Holfeld: Ja.
Was ist das denn überhaupt, Polyamorie?
Holfeld: Polyamorie ist für mich der Zustand einer Person. Einer Person, die feststellt, dass sie mehrere Menschen zur selben Zeit lieben kann. Polyamorie sieht vor, dass so jemand mit mehreren anderen eine Beziehung führen könnte. Das bedeutet aber nicht, dass alle Mitglieder der Konstellation auch untereinander Beziehungen führen. Nicht jeder schläft mit jedem.
Dann ist das wohl ein Klischee.
Holfeld: Genau. Es gibt viele Menschen, die Polyamorie für sich entdecken. Die in der Therapie berichten, dass sie schon früher Liebe zu mehreren Personen empfunden haben und jetzt erleichtert sind, dass es einen Begriff dafür gibt.
Ist Polyamorie in Ihren Augen eine „Modeerscheinung“ oder wird das Modell heutzutage nur offener angesprochen als noch vor 50 Jahren?
Holfeld: Forschung in diesem Bereich hat gezeigt, dass wir die Fähigkeit haben, mehrere Menschen zur selben Zeit zu lieben. Wir können schließlich auch zu unseren Freunden, Geschwistern und Eltern enge Beziehungen pflegen, und das gleichzeitig.
Ich glaube, Polyamorie wird heutzutage offener angesprochen als noch vor 50 Jahren. Dazu kommt, dass die Menschen reflektierter mit ihrer Sexualität umgehen. Allerdings spielt es auch eine Rolle, wo man lebt. In Städten ist die Freiheit, etwas auszuprobieren, wahrscheinlich größer als auf dem Land.
„Viele polyamore Paare werden das gefragt. Es nervt sie“
Mehrere Menschen gleichzeitig lieben. Kommt es da nicht schnell zu Eifersüchteleien?
Holfeld: Viele polyamore Paare werden das gefragt. Es nervt sie. Eifersucht ist in polyamoren Beziehungen kein größeres Thema als in anderen Partnerschaften. Man kann auf vieles im Leben des anderen eifersüchtig sein und sich zurückgesetzt fühlen. Immerhin wird grundsätzlich viel fremdgegangen, bestimmt auch aus enttäuschter Erwartung. Wenn ich mich richtig erinnere, sogar in 30 bis 50 Prozent der Beziehungen.
Wo liegen dann die Schwierigkeiten bei polyamoren Beziehungen?
Holfeld: Probleme kommen hier eher durch das Umfeld. Andere Personen können das Modell oft schlecht verstehen. Außerdem ist es häufig nur einer von beiden Partnern, der polyamor leben möchte. Der oder die andere kann sich in der Regel nur schwer damit arrangieren.
Einen bestimmten Status beim Partner nicht eingeräumt zu bekommen, ist ein Problem in vielen Beziehungen
Vermutlich, weil Selbstzweifel aufkommen.
Holfeld: Ja. Allerdings denke ich nicht, dass das Problem polyamorie-spezifisch ist. Man kann sich auch unsicher fühlen, wenn der Partner zu sehr auf den Job oder das gemeinsame Kind fixiert ist. Einen bestimmten Status beim Partner nicht eingeräumt zu bekommen, ist ein Problem in vielen Beziehungen.
Also ein Thema, mit dem Sie sich als Paartherapeutin ständig auseinandersetzen müssen.
Holfeld: Genau. In der Paartherapie lernen Betroffene, die Unsicherheit auszuhalten, aber auch über gegenseitige Bedürfnisse zu sprechen. Eine Krise muss nicht das Beziehungsende bedeuten. Ein Paar kann daran wachsen.
In welchen Krisen stecken Paare denn, die zu Ihnen kommen?
Holfeld: Viele sagen, sie verstehen sich nicht mehr, sie können nicht mehr miteinander kommunizieren. Ich glaube aber, das Hauptproblem liegt woanders: Dass der andere nicht so ist, wie wir das gerne hätten. Viele Paare müssen lernen, mit Unterschieden umzugehen. Sie nicht nur zu akzeptieren, sondern auch wertzuschätzen. Das macht das Gegenüber ja erst spannend. Dass es nicht genauso tickt wie wir selbst.
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„Viele Paare geben viel zu schnell auf“
Aber wo liegen die Grenzen? Jede noch so störende Verhaltensweise des Partners einfach hinzunehmen, kann auch nicht die Lösung sein.
Holfeld: Natürlich gibt es Beziehungen, in denen es unmöglich ist, etwas zu verbessern. Die absolut ungesund sind. Bei denen es keinen Sinn macht, noch länger zusammenzubleiben.
Aber ich glaube, das trifft in den wenigsten Fällen zu. Viele Menschen haben nicht gelernt, mit bedrückenden Momenten, mit unterschiedlichen Wünschen und Vorstellungen umzugehen, sie auszuhalten und Kompromisse einzugehen.
Das heißt also, in Ihren Augen hätten viele Paare noch eine Chance. Und müssten sich nicht trennen.
Holfeld: Genau. Viele Paare geben meiner Erfahrung nach viel zu schnell auf. Wenn es nicht passt, trennt man sich eben. Das ist aber sehr kurzsichtig gedacht. Oft nehmen Betroffene ihre Probleme mit in die nächste Beziehung und scheitern am selben Punkt.
Was für Probleme zum Beispiel?
Holfeld: Manche sagen, sie können sich nicht auf jemanden einlassen, andere werden immer wieder betrogen. Wichtig ist, ein realistisches Bild von sich selbst zu haben. Das klingt so einfach und ist doch so schwer. Manche Menschen verlangen wahnsinnig viel von der anderen Person, können aber selbst nicht liefern. Zu lernen, welche Erwartungen okay sind und wie man mit Frust umgeht, sind zentrale Grundpfeiler einer glücklichen Beziehung.
Liebe müsste doch auch entscheidend sein. Immerhin trennen sich viele Paare, weil die Gefühle füreinander verloren gegangen sind.
Holfeld: Liebe kann sich unter Wickelbergen, falsch gefalteten Handtüchern und Diskussionen verbergen. Es ist wichtig, sich umeinander zu kümmern, sich immer wieder Aufmerksamkeit zu schenken. Menschen verändern sich und so auch Beziehungen. Oft kommt es auf die kleinen Gesten an, mit denen man sich gegenseitig zeigt: Du bist mir wichtig.
Lässt sich Liebe zurückholen?
Holfeld: Nicht immer. Wenn Verachtung eingekehrt ist, wohl kaum. Oft geraten Beziehungen aber in einen Teufelskreis. Die Partner fangen an, alles aufzurechnen, sich wegen Kleinigkeiten zu kritisieren, und die ganze Beziehung findet nur noch im Kopf und nicht mehr im Herzen statt. In solchen Fällen gibt es Hoffnung. Allerdings müssen beide an der Partnerschaft arbeiten wollen.
Über die Interviewpartnerin
Anna Holfeld arbeitet seit mehr als 13 Jahren als Paartherapeutin. Sie betreibt eine eigene Praxis für Familien- und Paarberatung in Berlin. Holfeld selbst lebt mit ihrem Ex-Mann, den gemeinsamen Söhnen und ihrer Frau in einer Familien-Wohngemeinschaft.
„Die Ansprüche an den Einzelnen sind unfassbar hoch geworden“
Heißt: Wenn einer aufgegeben hat, bringt das nichts mehr?
Holfeld: Sozusagen. Wenn ein Partner partout nicht mehr möchte, muss ihn der andere gehen lassen. Aus meiner Sicht als Therapeutin ist das schade. Ich muss auch sagen: Zu mir kommen Paare oft erst sehr spät. Dann ist es schon fünf nach zwölf statt fünf vor zwölf. Dann gibt es viele Gräben. Dann ist sehr viel kaputt.
Früher sind Paare länger zusammengeblieben als heute.
Holfeld: Das stimmt. Die Scheidungsraten haben zugenommen. Heute sind Frauen selbstständiger, unabhängiger, freier. Heute trennt sich nicht nur der Mann. Im Gegenteil: Es werden sogar die meisten Scheidungen von Frauen eingereicht. Aber es gibt auch viele Prüfungsmomente in Beziehungen.
Die Ansprüche an den Einzelnen sind unfassbar hoch geworden. Wir müssen so vielen Rollen gerecht werden, Mutter, Karrierefrau, Abenteurerin. Da passiert es schnell, dass die Beziehung in den Hintergrund rutscht. Und darin liegt die Gefahr. Wenn man es verpasst, der Partnerschaft Aufmerksamkeit zu schenken, gerät sie in Schieflage.
Therapeutin erklärt, wie Paare Probleme meistern
Wie sollten Paare denn mit Problemen umgehen?
Holfeld: Es gibt ein paar Grundregeln. Eine lautet: Erst ich, dann du. Erst bei sich selbst schauen, welchen Anteil man an den Schwierigkeiten hat. Was sind meine Erwartungen, für welche Probleme bin ich verantwortlich? Und wie kann ich eingreifen? Nicht sofort den anderen kritisieren.
Eine andere Regel ist: Ehrlichkeit schafft Nähe. Dinge offen ansprechen, lernen, da zu bleiben, auch wenn es schwierig ist. Wer sich vor unangenehmen Gesprächen drückt, baut Groll auf. Das ist vergleichbar mit einem Teppich, der Falten wirft, über die man irgendwann stolpert. Außerdem wichtig: Genug Aufmerksamkeit auf die Beziehung legen. Platz für den Einzelnen schaffen. Dinge für sich tun.
„Vieles passiert hinter verschlossenen Türen“
Immer wieder trennen sich Paare, die nach außen hin sehr glücklich wirkten. Es gab also offenbar Probleme. Sprechen wir zu wenig über Beziehungen?
Holfeld: Vieles passiert hinter verschlossenen Türen. Wie Beziehungen wirklich laufen, bekommen wir oft gar nicht mit. Gerade über Probleme wird nicht ehrlich gesprochen. Dabei würde das vielen guttun.
Einfach mal zugeben, dass es Schwierigkeiten mit dem Partner gibt, dass man sich überfordert fühlt. Auch in der Beziehung selbst. Solche Gespräche können helfen, zu verstehen: Was will ich, was will mein Partner? Was können wir ändern? Und wie schauen andere auf unsere Lage?
Sollten sich Menschen – was Beziehungen betrifft – in Ihren Augen mehr trauen? Sprich, auch mal etwas Ungewöhnliches ausprobieren, wenn es sich richtig anfühlt?
Holfeld: Ja, auf jeden Fall. Mutiger sein und wirklich aussprechen, wie es einem geht. Die eigenen Gefühle ernst nehmen. Zusammen Lösungen finden. Nicht einfach aus der Beziehung aussteigen, Krisen als Herausforderung sehen. Es hinbekommen, zusammen glücklich zu sein.
Sich etwas erlauben, auch wenn das bedeutet, sich vom „klassischen“ Modell zu entfernen. Damit meine ich nicht unbedingt, polyamor zu leben oder ähnliches. Weg vom „klassischen“ Modell kann auch heißen, nicht zusammen zu wohnen oder keine Kinder zu bekommen. Es bedeutet einfach: Einen individuellen Weg wählen.
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