Heranwachsende mit überflüssigen Pfunden besitzen im Vergleich zu normalgewichtigen Kindern und Jugendlichen ein erhöhtes Risiko für Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Diabetes sowie für Atemwegserkrankungen und orthopädische Probleme. Bisher beschränkte sich die Behandlung vorrangig auf Lebensstil-Interventionen. Ein neu zugelassenes Arzneimittel sowie ein Wirkstoff in klinischer Prüfung könnten zukünftig neue Optionen für Kinder und Jugendliche sein.
Die Prävalenzen von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland haben sich auf hohem Niveau stabilisiert. Zu dieser Aussage kommen die Autoren der 2018 publizierten Ergebnisse der zweiten Welle der „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS), die vom Robert Koch-Institut durchgeführt wurde. Diese Langzeitstudie stellt seit 2003 bundesweit repräsentative Daten zur Verfügung, die die gesundheitliche Lage von Kindern und Jugendlichen in Deutschland beschreiben.
Für das Kinder- und Jugendalter ermittelte man für Übergewicht eine Prävalenz von 15,4 % und für Adipositas von 5,9 %. Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen wurden nicht beobachtet, jedoch sind Kinder und Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischem Status (SES) deutlich häufiger von Übergewicht und Adipositas betroffen als Gleichaltrige mit hohem sozioökonomischem Status.
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Allerdings beruhen diese Ergebnisse auf Erhebungen zwischen 2014 und 2017 und lassen somit den Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die Adipositas-Prävalenz außen vor. Schulschließungen, eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten in der Freizeit, die vermehrte Nutzung von Computern und Smartphones und damit verbundene Veränderungen im Ernährungsverhalten könnten die Prävalenzen wieder erhöht haben, wie jüngere Untersuchungen zeigen.
Definitionen für das Kindes- und Jugendalter
Bei Erwachsenen werden Übergewicht und Adipositas mithilfe der Überschreitung bestimmter Grenzwerte des Body-Mass-Index (BMI; kg/m2) definiert. Liegt dieser zwischen 25 und 30 kg/m2, gilt die Person als übergewichtig, bei Werten ≥ 30 kg/m2 als adipös. Bei Kindern und Jugendlichen müssen jedoch alters- und geschlechtsspezifische Veränderungen des BMI berücksichtigt werden, feste Grenzwerte gibt es nicht. Daher sollte die Bestimmung von Übergewicht und Adipositas anhand geschlechtsspezifischer BMI-Altersperzentilen erfolgen. Darüber hinaus können zur Abschätzung des Körperfettanteils Methoden wie die Messung von Hautfaltendicken oder die Bioimpedanzanalyse angewendet werden.
Prävention schon in der Schwangerschaft?
Noch ungenügend erforscht ist der Zusammenhang zwischen der Ernährung in der Schwangerschaft und dem Risiko der Nachkommen für Übergewicht und Adipositas. Nach der FOAD-Hypothese (Fetal Origins of Adult Disease, fetaler Ursprung von Erkrankungen im Erwachsenenalter) könnten die Qualität und Quantität der Nährstoffe, die die Schwangere zu sich nimmt, bereits im Uterus über epigenetische Prozesse eine metabolische Programmierung auslösen. Basierend darauf empfiehlt die S3-Leilinie „Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter“, während der Schwangerschaft eine übermäßige Gewichtszunahme zu vermeiden.
Präventionsmaßnahmen schwer umzusetzen
Die Maßnahmen zur Prävention von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen umfassen die Bausteine gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung (was die Reduktion des Medienkonsums einschließt) und Sport sowie Strategien zur Verhaltensänderung, die die gesamte Familie einbeziehen. Sie sind seit Langem bekannt, doch ihre Umsetzung erweist sich oft als schwierig.
Mit diesem Problem ist Deutschland nicht allein. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht mittlerweile von einer Adipositas-Epidemie, die europaweit alle Altersgruppen betrifft. Aus Sicht der WHO ist sie nur umkehrbar, wenn vonseiten der Politik bestimmte Gegenmaßnahmen auf den Weg gebracht werden. Dazu zählen beispielsweise die Subvention gesunder Lebensmittel, die Besteuerung zuckergesüßter Erfrischungsgetränke oder Werbebeschränkungen für ungesunde Lebensmittel mit viel Zucker, Fett und Salz. Die Bundesregierung will die an Kinder und Jugendliche gerichtete Werbung für Lebensmittel mit zu viel Fett, Zucker und Salz einschränken. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hat einen diesbezüglichen Gesetzentwurf erarbeitet, der sich gegenwärtig in der Abstimmung mit anderen Ministerien befindet.
Therapie der Adipositas
Die S3-Leitlinie „Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter“ empfiehlt, bei einem Verdacht auf Übergewicht oder Adipositas die Kinderarztpraxis aufzusuchen. Dort werden zunächst andere Erkrankungen als Ursache des Übergewichts ausgeschlossen und gegebenenfalls weitere Behandlungsmaßnahmen eingeleitet (s. Kasten: „Anlaufstellen für Betroffene“). Diese umfassen Maßnahmen zur Ernährung und Bewegung, verhaltenstherapeutische Maßnahmen, Elternschulung sowie gegebenenfalls chirurgische Eingriffe und Arzneimittel. Auch digitale Interventionen hält die Leitlinie als Zusatz oder als alleiniges Mittel zur Prävention oder Behandlung von Adipositas und/oder Adipositas-assoziiertem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen für sinnvoll.
Anlaufstellen für Betroffene
In Deutschland gibt es keine flächendeckenden Angebote zur Unterstützung von Familien und Kindern bzw. Jugendlichen mit starkem Übergewicht. Erste Anlaufstelle sollte daher der Kinderarzt sein. Er kann Kontakte zu Ernährungs- oder Verhaltenstherapeuten herstellen. Außerdem bildet die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) zertifizierte Adipositas-Trainer für Kinder und Jugendliche aus. Einen Überblick über Trainer und Einrichtungen gibt die Webseite der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) https://adipositas-gesellschaft.de/aga/behandlungseinrichtungen/
Arzneimittel gegen Adipositas
Zusätzlich zu Lifestyle-Interventionen kann eine Pharmakotherapie sinnvoll sein. Die S3-Leitlinie empfiehlt sie, wenn herkömmliche verhaltensorientierte Therapien über mindestens neun bis zwölf Monate versagt haben oder wenn aufgrund von Komorbiditäten ein extrem erhöhtes Gesundheitsrisiko besteht. Die Indikation sollte durch einen auf dem Gebiet der Adipositas im Kindes- und Jugendalter erfahrenen Therapeuten gestellt werden. Auch für die medikamentöse Behandlung gilt das Prinzip, dass sie im Rahmen eines langfristig angelegten, interdisziplinären Therapieprogramms durchgeführt werden muss.
Bei der Erstellung der Leitlinie wurden Studien bis 2006 berücksichtigt, in denen Sibutramin, Orlistat, Metformin und Epinephrin zur pharmakologischen Behandlung der Adipositas im Kindes- und Jugendalter eingesetzt worden waren. Keiner dieser Wirkstoffe war und ist in Deutschland für diese Altersgruppe zugelassen. Laut der Leitlinie erscheint jedoch „ein individueller Heilversuch […] bei ausgewählten Patienten, bei mangelnden Alternativen und dringender Notwendigkeit einer Gewichtsreduktion sinnvoll“. Eine Alternative dazu könnten Wirkstoffe sein, die in den vergangenen Jahren explizit für Kinder und Jugendliche zugelassen wurden bzw. sich in klinischer Prüfung befinden.
Liraglutid
Der GLP-1(Glucagon-like-Peptid-1)-Rezeptoragonist Liraglutid (Saxenda®) ist seit 2015 als Ergänzung zu einer gesunden Ernährung und verstärkten körperlichen Aktivität zur Gewichtsregulierung bei jugendlichen Patienten ab zwölf Jahren zugelassen. Voraussetzungen für den Einsatz sind eine Adipositas mit einem BMI, der ≥ 30 kg/m2 für Erwachsene entspricht, und ein Körpergewicht über 60 kg. Nach zwölfwöchiger Behandlung mit einer Dosis von 3,0 mg/Tag oder der maximal vertragenen Dosis ist Liraglutid abzusetzen, wenn die Patienten nicht mindestens 4 % des altersadaptierten BMI verloren haben. Die Verabreichung von Liraglutid erfolgt einmal täglich subkutan. Die Dosis wird zu Behandlungsbeginn über vier Wochen schrittweise eskaliert.
Semaglutid
Dieser GLP-1-Rezeptoragonist ist als Wegovy® bislang nur zur Behandlung von Übergewicht und Adipositas bei Erwachsenen zugelassen. Im Gegensatz zu Liraglutid wird Wegovy® nur einmal wöchentlich subkutan angewendet. Die STEP-TEENS-Studie hatte Semaglutid erstmalig bei Teenagern zwischen 12 und < 18 Jahren im Vergleich mit Placebo untersucht. Die einmal wöchentliche 2,4-mg-Dosis, die auch für Erwachsene in dieser Indikation zugelassen ist, bzw. Placebo wurde den 201 Teilnehmenden über 68 Wochen zusätzlich zu Lebensstil-Interventionen verabreicht. Das Ergebnis: Bei 76 % der Jugendlichen trat unter Semaglutid ein Gewichtsverlust von mindestens 5 % auf, in der Kontrollgruppe waren es 23 %. Mindestens 20 % ihres Körpergewichts verloren 37 % der Kinder und Jugendlichen unter Semaglutid, in der Placebogruppe waren es dagegen 3 %. Die mittlere BMI-Änderung unterschied sich zwischen den beiden Gruppen signifikant (-16,1 % vs. 0,6 %, p < 0,001). Gastrointestinale Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen und Diarrhö wurden unter Semaglutid deutlich häufiger beobachtet als unter Placebo (62 % vs. 42 %). Fünf Teilnehmende entwickelten unter Semaglutid Gallensteine, unter Placebo traten sie nicht auf.
Metaanalysen mit widersprüchlichen Ergebnissen
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Setmelanotid
Auf einem anderen Wirkprinzip beruht der 2021 zugelassene Melanocortin-4-Rezeptoragonist Setmelanotid (Imcivree®), ein Orphan Drug. Voraussetzung für den Einsatz bei Kindern ab sechs Jahren sowie Erwachsenen ist ein bestätigter genetisch bedingter Mangel an Proopiomelanocortin (POMC) oder dem Leptin-Rezeptor (LEPR). Betroffene leiden unter einem unkontrollierbaren Hungergefühl, durch übermäßige Nahrungszufuhr entwickelt sich eine Adipositas. Setmelanotid ist ein selektiver Agonist an Melanocortin-4(MC4)-Rezeptoren im Gehirn, die an der Regulierung von Hunger- und Sättigungsgefühl beteiligt sind und die bei Betroffenen unzureichend aktiviert werden. Indem Setmelanotid diese Aktivierung wiederherstellt, kann das Hungergefühl reduziert und in Kombination mit einer verringerten Energiezufuhr und einem erhöhten Energieumsatz, beispielsweise durch Bewegung und Sport, eine Gewichtsabnahme herbeigeführt werden. Setmelanotid wird in altersabhängiger Dosierung einmal täglich subkutan angewendet. Der Wirkstoff besitzt auch eine schwach ausgeprägte Interaktion mit dem MC1-Rezeptor, der auf Melanozyten exprimiert wird. Dadurch kommt es unter der Behandlung zu einer Akkumulation von Melanin, verbunden mit einer erhöhten Hautpigmentierung und einem Übergang der Haarfarbe von Rot in einen Braunton.
Literatur
Wie Corona das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen verändert hat. Ergebnisse einer repräsentativen Elternbefragung. Stand: 31. Mai 2022, Deutsche Adipositas Gesellschaft (DAG), Else Kröner-Fresenius-Zentrum (EKFZ) für Ernährungsmedizin, https://adipositas-gesellschaft.de/forsa-umfrage-zeigt-folgen-der-corona-krise-fuer-kinder-gewichtszunahme-weniger-bewegung-mehr-suesswaren-jedes-sechste-kind-ist-dicker-geworden/
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Mehr Kinderschutz in der Werbung: Pläne für klare Regeln zu an Kinder gerichteter Lebensmittelwerbung. Mitteilung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, Pressemitteilung vom 25. Juli 2023, www.bmel.de/DE/themen/ernaehrung/gesunde-ernaehrung/kita-und-schule/lebensmittelwerbung-kinder.html, Abruf am 31. Juli 2023
Neubeck M. Neue Arzneimittel: Setmelanotid, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/pharmazie/arzneimittel/2022/06/01/setmelanotid
New WHO report: Europe can reverse its obesity „epidemic“. Pressemitteilung der WHO vom 3. Mai 2022, www.who.int/europe/news/item/03-05-2022-new-who-report–europe-can-reverse-its-obesity–epidemic, Abruf am 31. Juli 2023
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Schienkiewitz A et al. Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. J Health Monit 2018;3(1), DOI 10.17886/RKI-GBE-2018-005.2
Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter. Evidenzbasierte S3-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) in Zusammenarbeit mit weiteren Fachgesellschaften. Stand: 31. August 2019, gültig bis 30. August 2024, AWMF-Registernummer 050-002
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