Was dürfen Apotheker:innen, wenn ein Mensch im Notfall Hilfe braucht? Erste-Hilfe-Maßnahmen sind selbstverständlich. Doch was ist, wenn ein bestimmtes Arzneimittel nötig ist, für das aber kein Rezept vorliegt? Eine juristische Zwickmühle: Einerseits ist die Abgabe von Rx-Arzneimitteln ohne ärztliche Verschreibung tabu, andererseits könnte eine unterlassene Hilfeleistung vorliegen. Apotheker und Jurist Dennis Effertz widmet sich in der aktuellen DAZ dieser Problemlage und zeigt Lösungswege auf.
Stellen Sie sich vor, in Ihrer Apotheke kommt es zu einem Notfall: Ein Patient oder eine Patientin braucht dringend ein bestimmtes Arzneimittel. Doch eine ärztliche Verordnung gibt es nicht.
Das Grundproblem: Das Arzneimittelrecht stellt klar, dass verschreibungspflichtige Arzneimittel nur auf eine ordnungsgemäße Verschreibung hin abgegeben werden dürfen. Apotheker:innen, die sich darüber hinwegsetzen, können Abmahnungen von Kolleg:innen drohen – oder sogar strafrechtliche Konsequenzen. Doch es gibt auch eine andere Seite der Medaille. Eine ausnahmslose Ablehnung einer Arzneimittelabgabe ohne Verschreibung – oder deren Anwendung – wäre vor dem Hintergrund von § 323c Strafgesetzbuch („unterlassene Hilfeleistung“) ebenfalls problematisch. Der Straftatbestand gilt als verwirklicht, wenn eine zur Hilfeleistung verpflichtete Person hinter dem zurückbleibt, was ihr individuell möglich und zumutbar ist. Bei impfenden Apothekerinnen und Apotheker wird beispielsweise bereits davon ausgegangen, dass sie Epinephrin im Notfall verabreichen dürften.
Klar ist: Der Patientenwunsch allein zählt nicht. Für ihn mag es nicht verständlich sein, warum er seine Dauermedikation, die plötzlich nicht mehr fürs Wochenende reicht, nicht ohne Rezept zu haben ist. Auch wenn es gerade bei Stammkunden schwerfällt – hier ist aufzuklären und der Patient an den Arzt bzw. die Notfallambulanz zu verweisen. Gegebenenfalls kann im Fall eines Dauerbehandlungsverhältnisses eine fernmündliche Verschreibung durch den tatsächlich behandelnden Arzt des Patienten eingeholt werden (vgl. § 4 Abs. 1 AMVV).
Arzneimittelabgabe bei Unglücksfällen: Einzelfallentscheidung
Abzugrenzen von diesen „banalen“ Problemen der Versorgungsrealität sind tatsächliche Unglücksfälle. Hierbei handelt es sich um plötzliche äußere Ereignisse, die eine erhebliche und akute gesundheitliche Gefahr für Personen mit sich bringen und bei denen Verzögerungen die Lage noch verschlimmerten. Auch Krankheiten können bei akuter oder bedrohlicher Verschlimmerung hierunter fallen. Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof bei der Frage, wann und ob Arzneimittel ohne Rezept ausnahmsweise abgegeben werden können, aufgestellt.
Apotheker haben also mithilfe ihres Fachwissens sorgsam abzuwägen, wann eine Verweisung an ein Krankenhaus, den ärztlichen Notdienst oder das Rufen des Rettungsdienstes ohne Verschlechterung des Gesundheitszustandes möglich ist. Eine Abgabe von geeigneten Arzneimitteln ohne Verschreibung kommt erst in Betracht, wenn andere Retter zu spät kämen. Die Abgabe von Kleinstmengen (Teilabgabe), die zur Abwendung des Notfalls tatsächlich erforderlich sind, dürfte angezeigt sein, um einem möglichen Vorwurf einer wettbewerblichen Motivation im Vorhinein abwenden zu können. Ebenso sollte parallel der Notarzt gerufen werden, spätestens aber im unmittelbaren Anschluss. Anderenfalls dürfte die Eigenschaft des Vorfalls als Notsituation retrospektiv zumindest im Zweifel stehen.
Besondere Vorsicht bei der Applikation von Arzneimitteln
Und wie sieht es im prominenten Beispiel des anaphylaktischen Schocks aus? Hier müsste der Adrenalin-Pen nicht nur abgegeben, sondern auch direkt eingesetzt werden. Der Patient dürfte dazu nicht selbst in der Lage sein. Aber darf das ein Apotheker oder eine Apothekerin? Eigentlich fällt dies in den Bereich der Heilkunde. Und die steht Apotheken lediglich in einem begrenzten, gesetzlich zugelassenen Umfang offen (z. B. Grippe-/Coronaimpfungen).
Wie großzügig die Gerichte im Notfallkontext wären, ist unklar. Eine Einzelfallabwägung ist hier von besonderer Bedeutung. Recht sicher ließe sich noch sagen, dass bei einer anaphylaktischen Reaktion impfende Apotheker unproblematisch handelt könnten. Sie wären hierzu nicht nur berechtigt, sondern über § 323c StGB auch verpflichtet.
Fazit
Effertz‘ Fazit: Der primäre (Not-)Versorgungsauftrag liegt insbesondere bei Notfallambulanzen und dem Rettungswesen. In Not- und Unglücksfällen sind Apotheker allerdings berechtigt und auch verpflichtet, ihre besonderen (individuellen) Kompetenzen einzusetzen. An sie werden höhere Anforderungen gestellt als an den „Normalbürger“. Zum einen verfügen Apothekerinnen und Apotheker über geeignete Lebensretter (Arzneimittel) und zum zweiten wissen sie regelmäßig, wie diese anzuwenden sind. Gleichwohl bedürfen Fälle im Spannungsfeld zwischen unterlassener Hilfeleistung und unerlaubter Arzneimittelgabe bzw. Applikation einer Würdigung des Einzelfalls – und diese verbleibende Rechtsunsicherheit kann man den Apothekerinnen und Apothekern leider nicht nehmen.
Lesen Sie gesamten Beitrag von Dr. Dr. Dennis A. Effertz in der aktuellen DAZ Nr. 19, 2023, S.18. Der Beitrag beruht auf einem im vergangenen Jahr in der Zeitschrift Arzneimittel & Recht erschienen Beitrag (A&R Nr. 3, 2022, S. 122: (Neue?) Notfallkompetenzen des Apothekers – von Dr. Timo Kieser/Dr. Dennis A. Effertz)
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