Mailand-Bergamo-Paradox: Wo die erste Welle wütete, sind die Fallzahlen heute gering

Das italienische Bergamo war eines der traurigen Hotspots der ersten Corona-Welle. Heute sind die Fallzahlen dort erstaunlich niedrig – anders als in anderen Teilen Italiens. Dahinterstecken könnte laut Kommentatoren eine bereits erreichte Herdenimmunität.

Die Bilder aus Bergamo von Leichenwagen-Konvois haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Die norditalienische Stadt ist zum Symbol dessen geworden, was passiert, wenn sich das Coronavirus unkontrolliert ausbreitet und das Gesundheitssystem in die Knie zwingt. Krankenhäuser konnten Covid-Patienten damals teils nur mehr notdürftig versorgen, Material und Personal fehlte, viele Menschen starben.

Heute sind die Fallzahlen ausgerechnet in dem einstigen Corona-Hotspot eher gering. Wie die italienische Zeitung „Il Fatto Quotidiano“ schreibt, zeigte sich in der Provinz Bergamo im Oktober das langsamste Wachstum bei den Infektionszahlen in der gesamten Region.

So stieg die Zahl der Ansteckungen in Bergamo zwischen dem 2. und dem 23. Oktober um 6,9 Prozent an. Im eine Autostunde entfernten Mailand, das im Gegensatz zu Bergamo während der ersten Welle relativ glimpflich davon gekommen war, hingegen nahm die Zahl der neu gemeldeten Infektionsfälle im gleichen Zeitraum um mehr als 60 Prozent zu.

Das Fazit der Zeitung: Bergamo könnte die erste europäische Stadt sein, in der eine sogenannte Herdenimmunität erreicht ist. Massimo Paolone/LaPresse via ZUMA PRess/dpa Lombardei: Der Konvoi der italienischen Armee aus Bergamo transportiert die Leichen der Verstorbenen vom Coronavirus zum Friedhof von Ferrara, wo sie eingeäschert werden

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Was bedeutet Herdenimmunität?

Dieser Begriff meint den Zustand, in dem in einer Bevölkerung so viele Menschen immun gegen einen Erreger sind, dass sich das Virus nicht mehr oder nur noch sehr langsam verbreitet. Damit dieser Effekt einsetzt, müssen nach Expertenmeinung etwa zwei Drittel der Bevölkerung bereits Kontakt mit dem Virus gehabt haben und eine entsprechende Immunreaktion zeigen.

Das könnte laut Luca Lorini in Bergamo bereits der Fall sein. Schon im Frühjahr hätten dem Leiter der Abteilung für Notfallmedizin am örtlichen Krankenhaus Papa Giovanni zufolge Studien gezeigt, dass in der Provinz bis zu 40 Prozent der Bevölkerung mit dem Coronavirus in Kontakt gekommen seien. Im Norden der Provinz hätten Antikörper-Tests sogar einen Anteil von bis zu 60 Prozent ergeben.

Andere Gründe sind ebenfalls denkbar

Dass sich inzwischen weniger Menschen als anderswo in Bergamo infizieren, könnte ein Indiz zumindest für eine teilweise Herdenimmunität sein. Zweifelsfrei bewiesen ist die bisher aber nicht. Die im Vergleich eher geringen Zuwächse bei den Fallzahlen im Zuge der zweiten Welle könnten daher auch auf andere Gründe zurückzuführen sein – etwa die abschreckende Wirkung der verheerenden ersten Infektionswelle. Die Einwohner der bereits stark betroffenen Städte könnten sich heute entsprechend vorsichtiger verhalten als andere Bevölkerungsgruppen. Das Risiko für Ansteckungen würde dadurch sinken.

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  • Meldungen über eine angebliche Herdenimmunität gab es bereits

    Bergamo ist nicht die erste Stadt, der eine potenzielle Herdenimmunität bereits nachgesagt wird. Im Sommer war das bereits für die schwedische Metropole Stockholm diskutiert worden. Virologe Ulf Dittmer von Universitätsklinikum Essen hatte damals im FOCUS-Online-Interview entsprechenden Medlungen allerdings widersprochen. Zwar habe es bereits im Sommer aufgrund der eher laschen Corona-Politik der schwedischen Regierung vermutlich einen hohen Anteil an Personen gegeben, die infiziert waren. Gerade in Metropolen wie Stockholm könnte der sogar bereits bei 30 bis 40 Prozent gelegen haben. „Aber wir sprechen hier noch nicht von Herdenimmunität“, führte der Virologe aus.

    Ebenfalls als heißer Kandidat gehandelt in Sachen frühe Herdenimmunität: das brasilianische Manaus. Im September hatte eine internationale Studie auf Basis von Antikörper-Screenings tausender Blutspenden aus der Stadt nahegelegt, dass etwa zwei Drittel der Einwohner der Stadt eine Infektion bereits durchgemacht haben könnten – wissentlich oder unwissentlich.

    Die Zahlen entsprachen exakt dem Anteil an Menschen, den Wissenschaftler als notwendig dafür nennen, den natürlichen Schutzmechanismus in der Bevölkerung zu bewirken, so dass sich das Virus nicht mehr ausbreiten kann. 

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    Immunität hängt auch von der Schwere der Infektion ab

    Zu einem zu unbekümmerten Umgang mit dem Virus sollten diese Befunde allerdings nirgendwo führen. Denn basieren die Zahlen bis dato einerseits auf eher geringen Probandenzahlen, andererseits ist auch nach zehn Monaten weltweiter Pandemie weiter unklar, wie lange eine Immunität gegen das Virus überhaupt besteht. Zwar seien die meisten Infizierten zumindest einige Monate nach ihrer Infektion immun, erklärt Virologe Friedemann Weber auf Nachfrage von FOCUS Online.

    Doch gebe es durchaus auch einen Zusammenhang zwischen der Stärke der Symptome der Infektion und der Immunantwort. „Jemand, der einen milden Verlauf hatte, hat einen geringeren Schutz vor einer erneuten Infektion als jemand, der die gesamte Infektion mit schwereren Symptomen durchgemacht hat.“ Inwiefern das Auswirkungen auf die vermutete Herdenimmunität in Bergamo hat, ist schwer zu sagen. Die AHA+L-Regeln müssen deshalb auch dort weiter eingehalten werden.

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