Was Sie über IGeL wissen sollten



Für individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) müssen Patienten selbst zahlen. Warum sie bei solchen Angeboten Nutzen und Schaden besser gut abwägen

Individuelle Gesundheitsleistungen kosten extra – und das oft nicht wenig

Jeder zweite Kassenpatient in Deutschland kennt es mittlerweile: Sein Arzt bietet ihm zusätzliche Leistungen an, etwa zur Früherkennung von Krankheiten. Doch die Sache hat einen Haken: Patienten müssen diese sogenannten Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) aus eigener Tasche zahlen. Und viele Patienten tun es. Fast drei Viertel nahmen solche Angebote an und gaben etwa eine Milliarde Euro dafür aus. Das zeigt der IGeL-Report 2018, eine Befragung des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen.

Die Bundesärztekammer beschreibt IGe-Leistungen ganz allgemein so: "IGeL sind ärztliche Leistungen die von den gesetzlichen Krankenkassen nicht finanziert werden und daher von den Versicherten selbst bezahlt werden müssen." Sie sollen außerdem ärztlich empfehlenswert oder zumindest ärztlich vertretbar sein. Es gibt heute mehrere hundert IGe-Leistungen. Wie viele es genau sind, weiß man nicht. Eine einheitliche und verbindliche Liste, die sie alle aufzählt, existiert nicht. Und es kommen ständig neue hinzu. Wirklich häufig angeboten werden aber nur wenige.

Die Spitzenreiter sind derzeit die Messung des Augeninnendrucks und Ultraschalluntersuchungen der Brust und der Eierstöcke. Zu den Selbstzahlerleistungen gehören jedoch nicht nur Screenings. Sie umfassen beispielsweise auch sportmedizinische Untersuchungen, Beratungsleistungen und Reiseimpfungen. Auch manche komplementär eingesetzten Therapien aus der Alternativmedizin werden als IGe-Leistungen in Rechnung gestellt. Beim Zahnarzt heißen IGe-Leistungen oft "private Zusatzleistungen". Im Prinzip ist damit dasselbe gemeint. Die professionelle Zahnreinigung beispielsweise ist eine der am häufigsten durchgeführten IGe-Leistungen.

Wieso zahlt die Kasse nicht?

Medizinische Untersuchungen und Behandlungen müssen sowohl notwendig als auch wirtschaftlich sein. Ob das der Fall ist, legt das zentrale Entscheidungsgremium im deutschen Gesundheitssystem fest: der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Vertreter der Krankenkassen, der Krankenhäuser sowie der Ärzte und Zahnärzte beraten hier darüber, welche Leistungen die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen müssen. Patientenvertreter haben Beratungs- und Antragsrechte, jedoch kein Stimmrecht. Lehnt der G-BA eine Untersuchung oder Behandlung ab, müssen die Kassen sie nicht erstatten. Solche Leistungen werden dann häufig als IGeL angeboten.

Bei den privaten Krankenversicherungen (PKV) ist es anders. Hier gilt: Es hängt vom jeweiligen Versicherungsvertrag ab, ob die Versicherung eine Leistung bezahlt. Top-Tarife decken in der Regel auch die meisten IGe-Leistungen ab. Die Leistungen eines Basistarifs unterscheiden sich normalerweise kaum von denen der gesetzlichen Krankenkassen.

Der G-BA bewertet seit den 1990er Jahren nach den streng wissenschaftlichen Maßstäben der Evidenzbasierten Medizin. Wenn eine Behandlung oder Untersuchung von ihm abgelehnt wird, lässt sich entweder ihr Nutzen oder ihre Wirtschaftlichkeit nicht belegen. Das heißt: Entweder konnte in Studien keine nennenswerte Wirksamkeit festgestellt werden oder es fehlen aussagekräftige Studien zu einer Leistung. Oder aber es gibt bereits ein günstigeres Verfahren, das ähnlich gut ist. Das gilt für den Großteil der angebotenen IGeL. Daneben sind da noch die IGeL, die durchaus sinnvoll sein können, aber nicht zum Versorgungsumfang der gesetzlichen Krankenkassen gehören – etwa eine Untersuchung der Tauchtauglichkeit.

Einige Ärzte bieten beispielsweise auch Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) oder Osteopathie in Form von IGeL an – weil sie überzeugt sind, dass sie im individuellen Fall hilfreich sein könnten oder zumindest nicht schaden, auch wenn der generelle Nutzen nicht wissenschaftlich belegt ist.

Wunscherfüllende Medizin

Bei manchen medizinischen Dienstleistungen geht es mehr um die Erfüllung von Wünschen – um Lebensplanung, Selbstverwirklichung und Selbstverbesserung. Die Entfernung von Tätowierungen, kosmetische Eingriffe, Zahnbleachings oder Wunschgeburten per Kaiserschnitt sind Beispiele dafür. Dementsprechend treten die Patienten ihrem Arzt gegenüber eher als Kunden auf, wenn sie solche IGeL wünschen. Sie fragen die Behandlungen von sich aus nach und müssen sie selbst bezahlen.

Das ist aber eher die Ausnahme als die Regel. In den meisten Fällen sind es die Ärzte, die ihren Patienten IGe-Leistungen vorschlagen. In vier von fünf Fällen sind es Leistungen zur Früherkennung und zur Prävention.

IGe-Leistungen können auch schaden

Die Inanspruchnahme von IGeL kann auch Nachteile haben. Ein Beispiel hierfür: der Ultraschall der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung. Studien sehen darin keinen Nutzen, wenn Ärzte diese Untersuchung bei symptomfreien Patientinnen ohne Verdacht auf oder ein besonderes Risiko für Eierstockkrebs (Ovarialkarzinom) vornehmen. Die Sterblichkeit an diesem Krebs ließ sich durch diese Früherkennungsmaßnahme nicht senken. Bei einigen Frauen ergibt sich jedoch aufgrund eines auffälligen Ultraschallbefundes ein Krebsverdacht, obwohl die Eierstöcke gesund sind. Im schlimmsten Fall kann das dazu führen, dass ihnen aufgrund dieses Fehlalarms die Eierstöcke entfernt werden.

Umso wichtiger ist es, dass Ärzte ausführlich und sachlich über mögliche Vor- und Nachteile einer IGeL informieren. Patienten sollten diese Informationen auch einfordern und sich ein eigenes Bild machen. Eine Entscheidungshilfe geben möchte beispielsweise der IGeL-Monitor, eine Patienten-Informationsseite des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherung. Unter www.igel-monitor.de* bewerten Mediziner und Wissenschaftler mittlerweile zwei Drittel der wichtigsten IGe-Leistungen.

Die Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung ohne Verdacht etwa wird "negativ" bewertet. Projektleiter Dr. Christian Weymayr sagt dazu: "Da kann es keine zwei Meinungen geben. Ich würde eine unsichere Patientin auf die Empfehlung der ärztlichen Leitlinie hinweisen, die sagt: Machen Sie es nicht." Aber Weymayr stellt auch klar: Bei den Bewertungen des IGeL-Monitors geht es um Information. Patienten sollten den Nutzen und den möglichen Schaden einer IGeL individuell abwägen. "Wir wollen die Leute nicht bequatschen und ihnen nichts ausreden, sondern ergebnisoffen informieren." Auf seiner Internetseite gibt das Team des IGeL-Monitors zu bedenken: "Wirklich objektive Bewertungen gibt es nicht, da das Abwägen von Nutzen und Schaden auf Werturteilen beruht. Es kann also sein, dass Sie zu einem anderen Fazit kommen."

Die Regeln der Wirtschaft im Gesundheitswesen

Der Philosoph Professor Matthias Kettner hält IGeL für zwiespältig. Er lehrt an der Universität Witten/Herdecke und beschäftigt sich dort intensiv mit der sogenannten Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Ökonomisierung meint, dass neben die medizinische Logik des Heilens eine wirtschaftliche Logik der Kosten-Nutzen-Abschätzung getreten ist: Nicht alles, was medizinisch machbar ist, wird auch vom solidarisch organisierten Versicherungssystem in Deutschland finanziert. Der Gesetzgeber verpflichtet die Krankenkassen wirtschaftlich zu arbeiten. Sie können nicht mehr ausgeben als sie durch die Beiträge ihrer Mitglieder einnehmen.

Das wird immer schwieriger. Die Menschen leben im Durchschnitt länger und haben häufiger chronische Krankheiten. Sie machen mittlerweile einen Großteil der Kosten im Gesundheitssystem aus. Moderne, teure Therapien treiben die Kosten zusätzlich in die Höhe. In den letzten Jahrzehnten setzte die Politik deshalb unter anderem auf marktwirtschaftlichen Wettbewerb. Dieser soll verhindern, dass die Kosten im Gesundheitswesen explodieren. Diesen Wettbewerb bekommen auch die niedergelassenen Ärzte zu spüren, meint Kettner. Sie müssen ihre Praxen auch als Wirtschaftsunternehmen begreifen. "Eigentlich müsste politisch sichergestellt werden, dass man gut wirtschaften kann, ohne sinnlose medizinische Leistungen zu verkaufen. Aber das ist nicht mehr garantiert."

IGeL belasten das Verhältnis zwischen Arzt und Patient

Genau hier liegt eine Gefahr für das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Der Arzt nimmt gegenüber seinem Patienten eine Doppelrolle ein: Einerseits soll der Mediziner unabhängig beraten, welche Leistungen im individuellen Fall Sinn machen. Andererseits steigern eben diese Leistungen auf private Rechnung seinen Umsatz.

Längst nicht alle Ärzte gehen behutsam mit dem Thema IGeL um. Manche bewerben die Leistungen aktiv. Laut IGeL-Report 2018 fühlt sich mehr als jeder dritte Patient durch IGeL-Angebote bedrängt. Viele sind sich nicht sicher, ob sie sich für oder gegen eine IGeL entscheiden sollen. "Es gibt sogar Ärzte, die Kassenleistungen von IGe-Leistungen abhängig machen", weiß Dr. Christian Weymayr. "Wenn der Patient beispielsweise keine professionelle Zahnreinigung kauft, wird er nicht weiter behandelt. Oder wenn er keine Augeninnendruckmessung machen lässt zur Glaukomfrüherkennung, bekommt er den nächsten Termin erst in einem Jahr."

Wenn Ärzte sich so verhalten, verletzen sie eindeutig ihre vertragsärztlichen Pflichten. Patienten, denen so etwas widerfährt, sollten die Landesärztekammer darüber informieren, raten sowohl der IGeL-Monitor als auch die Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung.

IGeL: So verhalten Sie sich richtig

Wenn Ihr Arzt Ihnen eine IGeL-Leistung anbietet, sollten Sie besser nicht gleich zustimmen. Christian Weymayr weiß: "Oft hat man während des Arztbesuchs nicht den Nerv oder den Mut vermeintlich unangenehme Fragen zu stellen. Deswegen ist es wahrscheinlich einfacher zu sagen: Ich überlege es mir." Er rät unbedingt dazu, folgende Punkte mit Ihrem Arzt zu klären:

1. Warum sollte ich das machen lassen? Was wäre mein Nutzen?

2. Was wäre die Konsequenz für die Therapie? Ist das einfachere, kassenfinanzierte Verfahren nicht auch ausreichend?

3. Bestehen Sie auf einen schriftlichen Vertrag mit einem verständlichen Kostenvoranschlag und einer detaillierten Rechnung.

4. Bitten Sie Ihren Arzt um Bedenkzeit und informieren Sie sich zunächst selbst.

5. Wenn Sie zu Hause sind: Informieren Sie sich beispielsweise beim IGeL-Monitor auf www.igel-monitor.de*. Hierzu können Sie sich ruhig Zeit nehmen. IGe-Leistungen sind – mit Ausnahme von Reiseimpfungen – selten dringend.

6. Erkundigen Sie sich auch bei Ihrer Kasse, ob die angebotene IGeL in Ihrem Fall bezahlt wird. Möglicherweise sind Sie ein Risikopatient und haben einen Anspruch darauf. Oder Ihre Kasse übernimmt die Kosten ganz oder teilweise als Zusatzleistung.

Wenn Sie wissen, was Sie für Ihr Geld bekommen, können Sie entscheiden: Das ist es mir wert – oder eben auch nicht. Gegebenenfalls kommen Sie dann auf das Angebot Ihres Arztes zurück.

Beratung und Informationen zu IGeL auf externen Seiten

– Bewertung von 49 IGe-Leistungen (Stand Mai 2018) durch den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V.: www.igel-monitor.de*

– Broschüre "Individuelle Gesundheitsleistungen" des Bundesministeriums für Verbraucherschutz: www.bdz-bw.eu/baden/downloads/igelbroschuere.pdf*

– Broschüre "Selbst zahlen?" der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung: https://www.patienten-information.de/checklisten/igel-checkliste*

– Verbraucherzentralen der Bundesländer, Adressen unter www.vzbv.de*

– Der Krebsinformationsdienst Heidelberg informiert zu IGeL in der Krebstherapie:

www.krebsinformationsdienst.de/behandlung/igel-behandlung.php*

Quellen

Kettner M: Einheit und Differenz von kurativer und wunscherfüllender Medizin. In: D. Ringkamp, H. Wittwer (Hg.): Was ist Medizin? Der Begriff der Medizin und seine ethischen Implikationen, Freiburg München Verlag Karl Alber 2018: 19-41

Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS): IGeL-Report 2018. Ergebnisse der Versichertenbefragung. Online: https://www.igel-monitor.de/fileadmin/Downloads/Presse/2018_05_03_PK_IGEL-MONITOR/18_05_03_IGeL-Report_2018_Ausfuehrlicher_Bericht.pdf* (Abgerufen am 27.11.2018)

Windeler J: Individuelle Gesundheitsleistungen – Spagat zwischen Markt und Medizin. In: GGW 2006,6: 17-27. Online: http://wido.de/fileadmin/wido/downloads/pdf_ggw/wido_ggw_aufs2_0406.pdf* (Abgerufen am 27.11.2018)

Gerlinger Th: Wettbewerb und Privatisierung. Über den Wandel von Gesundheitssystemen. In: A. Nassehi (Hg.): Gefährdete Gesundheiten (Kursbuch 175), Hamburg 2013: 170–182

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