Psychotherapien können Nebenwirkungen haben – doch wann liegt ein Behandlungsfehler vor?

Vor der stationären Psychotherapie litt Frau D. lange Jahre unter sozialen Ängsten. Sie hatte kaum Freunde, Hauptbezugsperson war ihr Mann. Durch Einzel- und Gruppentherapien lernt sie, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und darüber zu sprechen; sie geht auch wieder ihren Hobbys nach. Allerdings kriselt es in der Beziehung. Frau D. erzählt: „Bei uns ging es wohl nur gut, solange ich schüchtern war. Ich habe immer alles für meinen Mann getan. Mit meiner neuen selbstsicheren Art kommt er leider nicht klar, das wird bei jedem Wochenendbesuch daheim immer deutlicher. Er kann keine Kompromisse eingehen. Leider will er weder mit in diese Therapie kommen noch eine Paartherapie beginnen. Ich denke, ich muss mich von ihm trennen. Er tut mir einfach nicht gut!“ Tatsächlich verlässt Frau D. kurz nach ihrer Entlassung ihren Mann – nach 20 Jahren Ehe.

Herr S. leidet seit seiner Kindheit an einer chronischen Depression. Im Verlauf einer ambulanten Therapie geht es ihm allmählich besser. Seinem Therapeuten vertraut er viele schwierige Erlebnisse aus seiner Kindheit an, über die er nie zuvor gesprochen hat. Sein Therapeut reagiert sehr verständnisvoll und empathisch. Er hilft Herrn S., seine aktuellen Probleme besser zu verstehen und biografische Muster zu entschlüsseln. Als die bewilligten Stunden sich dem Ende zuneigen, verschlechtert sich der Zustand von Herrn S. plötzlich rapide. „Wir können die Therapie nicht beenden“, sagt Herr S. „Ich weiß nicht, wie ich es ohne Sie und unsere Gespräche schaffen soll. Ich brauche Sie. Bitte verlängern Sie die Therapie!“

Herr X., der schon viele Diagnosen erhalten hat, eröffnet die Sitzung mit den Worten: „Mir geht es so gut wie schon lange nicht mehr. Das liegt an Ihnen. Sie sind so eine tolle Therapeutin und auch eine wirklich beeindruckende und noch dazu so gut aussehende Frau. Sie haben mir ja beigebracht, über alles hier zu sprechen. Daher muss ich Ihnen jetzt etwas mitteilen: Ich kann nur noch an Sie denken, Tag und Nacht. Ich habe mich wohl in Sie verliebt.“

Dies sind drei Fallbeispiele, bei denen die Psychotherapie sogenannte „interpersonelle Konsequenzen“ hat. Im ersten Fall betreffen sie die Partnerschaft, in den beiden anderen Fällen die Beziehung zwischen Patient und Therapeut. Handelt es sich dabei um Wirkung oder Nebenwirkung der Psychotherapien? Wie gehen Therapeuten professionell damit um? Und rechtfertigt der Erfolg die negativen Effekte einer Therapie?

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Kaum erforscht: Nebenwirkungen von Psychotherapien

Zunächst einmal: Jede Behandlung, die wirkt, hat auch Nebenwirkungen. Das gilt selbstverständlich auch für Psychotherapien. Die gute Nachricht, die mit dieser Botschaft einhergeht, ist, dass Psychotherapie den Betroffenen hilft. Auch bei schwer belasteten Patienten ist Psychotherapie wirksam, häufig mindestens genauso wie Medikamente, was zweifelsfrei durch viele Studien nachgewiesen wurde. Der anderen Seite der Medaille, den Begleiterscheinungen der Psychotherapie, wurde lange Zeit wenig Beachtung geschenkt. Bisher gibt es dazu wenig Forschung. Je nach Erhebungsmethode und Art der Behandlung treten schätzungsweise bei drei Prozent bis nahezu 100 Prozent der Patienten im Verlauf einer Psychotherapie Nebenwirkungen auf.

Jedoch ist diese andere Seite der Medaille oft gar nicht so schlimm. Das Weinen eines Patienten, der sich während der Sitzung durch die Fragen des Therapeuten an belastende Erlebnisse erinnert, ist zwar ein kurzfristiger negativer Effekt, aber in der Regel nicht relevant, wenn der Patient sich anschließend nicht emotional belastet fühlt oder sich vor der Therapie fürchtet. Meist trifft hier der Vergleich mit einer eiternden Wunde (gleich psychische Störung) zu: Solange diese eitert, kann sie nicht heilen. Daher ist es ratsam, diese noch einmal zu öffnen, zum Beispiel durch Bearbeiten der schwierigen Erlebnisse aus der Kindheit, damit sie anschließend richtig heilen kann.

Nebenwirkungen einer Psychotherapie können leider nicht so einfach definiert werden wie bei Medikamenten, wo sich chemisch bedingt Haupt- und Nebenwirkung klarer unterscheiden lassen. Bei einer Psychotherapie interagieren zwei Individuen miteinander: Der Therapeut fragt, und der Patient antwortet, er öffnet sich. Dabei agieren sie verbal und nonverbal, durch Gesten, Schweigen, Blicke. Gemeinsam erarbeiten sie ein Ziel und versuchen, es zu erreichen. Dafür braucht es eine tragfähige emotionale Bindung zwischen Patient und Therapeut. Laut Definition der RINEPS-Arbeitsgruppe (Risiken und Nebenwirkungen der Psychotherapie) sind Nebenwirkungen Ereignisse, die

1. unerwünscht sind,

2. durch eine Therapie verursacht werden, die

3. korrekt durchgeführt wird, und

4. mindestens einen Funktions- oder Lebensbereich des Patienten betreffen.

Wenn ein Ereignis auftritt, muss als Erstes geklärt werden, ob es sich um ein unerwünschtes Ereignis, wie etwa die Trennung vom Partner, oder ein erwünschtes Ereignis handelt, zum Beispiel mehr Lust und Leidenschaft. Unerwünscht ist alles, was problematisch wäre, wenn es auch anders ginge. Eine Trennung mag unvermeidlich sein, ja, sie kann sogar im Verlauf einer Therapie zum Ziel werden und den Patienten letztlich erleichtern – so wie bei Frau D. Dennoch wäre dieses therapeutische Vorgehen problematisch, wenn es eine Alternative gäbe, welche die Patientin und ihren Partner glücklich machen würde.

Bei einem unerwünschten Ereignis gilt es im zweiten Schritt zu klären, ob dieses durch die Psychotherapie verursacht wurde oder ob dies unabhängig davon eingetreten ist. Selbstverständlich belastet etwa eine Kündigung oder der Tod eines nahestehenden Menschen den Patienten unabhängig von der Behandlung. Bei einem durch die Therapie verursachten unerwünschten Ereignis gilt es im dritten Schritt zu klären, ob die Psychotherapie korrekt und fachgerecht durchgeführt wurde oder ob ein Kunstfehler vorliegt und sich der Therapeut unethisch verhalten hat. Diese Unterscheidung ist besonders wichtig, denn Nebenwirkungen sind keine Therapiefehler, werden jedoch oft gleichgesetzt. Kunstfehler sind eindeutige Kennzeichen einer schlechten therapeutischen Behandlung, die haftungs- oder sogar strafrechtlich zu ahnden sind: Wenn Therapeuten beispielsweise Drogen einsetzen oder körperlich, beziehungsweise sexuell übergriffig werden. Negative Effekte hingegen treten auch bei korrekt durchgeführten Behandlungen auf.

Weitreichende Folgen können Nebenwirkungen für Beziehungen haben. Wenn Patienten in der Therapie zum Beispiel lernen, auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten und sich besser abzugrenzen, können sie durch ihr verändertes Verhalten Konflikte mit Familienmitgliedern, Partnern, Freunden oder Kollegen provozieren – weil sie nicht mehr deren Erwartungen entsprechen und mit alten Rollenmustern brechen.

In gravierenden Fällen kann es gar zu Kontaktabbrüchen zu Eltern oder Trennung vom Partner kommen. Wie bei Frau D., die nicht mehr bereit ist, ihre Bedürfnisse denen ihres dominanten Ehemanns unterzuordnen. Zudem können auch Störungen in der Beziehung zwischen Therapeut und Patient oder zwischen Patienten in Gruppentherapien auftreten – bis hin zum Abbruch der Therapie. Bei einer vordergründig besonders guten Therapeuten-Patienten-Beziehung kann eine problematische Abhängigkeit entstehen, die zu einer symptomatischen Verschlechterung führen kann – wie bei Herrn D., der sich ohne Therapeut allein gelassen und hilflos fühlt. Die Einzigartigkeit und Nähe der therapeutischen Beziehung kann sogar dazu führen, dass der Patient, so wie Herr X., seine Therapeutin idealisiert und sich in sie verliebt.

Zum Schutz der Patienten

Der Deutsche Bundestag hat 2013 das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten verabschiedet. Seitdem sind Ärzte und Psychotherapeuten rechtlich verpflichtet, ihre Patienten vor jeder Behandlung mündlich über mögliche Begleiterscheinungen und Risiken einer Therapie aufzuklären, zum Beispiel, dass es ihnen zunächst schlechter gehen kann.

Tritt im Verlauf der Therapie eine Nebenwirkung ein, sollte diese benannt, besprochen und bearbeitet werden. Möglichst immer sollten am Anfang und bei Bedarf auch im Verlauf der Therapie Angehörige und Bezugspersonen mit einbezogen werden – was der Ehemann von Frau D. leider ablehnte. Wenn ein Patient oder eine Patientin wie Frau D. während der Therapie über eine Trennung nachdenkt, sollte der Therapeut mögliche negative Konsequenzen wie den Verlust des Freundeskreises ansprechen und mit der Patientin Strategien zum Umgang mit Einsamkeitsgefühlen und Ängsten erarbeiten.

Gemäß der oben beschriebenen Definition haben wir es in allen drei Fällen mit Nebenwirkungen zu tun: Trennung, sich abhängig vom Therapeuten fühlen, sich in den Therapeuten verlieben – auch wenn die Frage, ob diese unerwünscht sind oder nicht, von den jeweils beteiligten Personen möglicherweise zunächst unterschiedlich beantwortet werden. Wichtig ist zudem, wie die drei Therapeuten reagieren. Und rechtfertigen die negativen Effekte die Erfolge der Therapien?

Der Mann von Frau D. schrieb der Therapeutin in einem Brief, dass er seine Frau nicht wiedererkenne, er sehr frustriert und wütend sei über ihre Veränderung und die Trennung. Auch Frau D., der es zunächst so gut ging, berichtet drei Wochen nach ihrer Entlassung, dass sie sich – wenig verwunderlich – nicht durchgehend stabil fühle, sondern oft traurig sei, zweifle und sich einsam fühle. Vor allem als sie mitbekommen habe, dass ihr Mann bereits eine neue Freundin hat. „Ich habe aber versucht, weiter die Strategien anzuwenden, die ich in der Klinik gelernt habe, ich habe meine Selbsthilfegruppe besucht und es so geschafft, aus dem Tief wieder herauszukommen“, erzählt sie. Die Therapeutin bietet Frau D. an, während dieser schwierigen Phase alle zwei Wochen zur Therapie in die Institutsambulanz zu kommen, was Frau D. dankend annimmt. Ein Jahr nach Entlassung hat auch Frau D. wieder einen Freund und berichtet: „Endlich habe ich einen Partner auf Augenhöhe gefunden.“

Die Abhängigkeit von Herr S. zur Therapie beziehungsweise seinem Therapeuten finden sowohl der Therapeut als auch Herr S. belastend, vor allem, da es zu einer deutlichen Symptomverschlechterung bei Herrn S. kommt. Der Therapeut spricht mit Herrn S. sehr offen darüber. Und Herr S. sieht ein, dass eine Verlängerung der Therapie das Problem nur aufschieben würde. Er nutzt daher die Möglichkeit des Ausschleichens der verbleibenden zehn Sitzungen: Zunächst kommt er alle 14 Tage, dann monatlich und am Ende halbjährlich. Dabei lernt er, autonom Entscheidungen zu treffen und baut Ängste ab.

Herr X. empfindet seine Gefühle des Verliebtseins zunächst natürlich nicht als unerwünscht – seine Therapeutin allerdings schon. Nachdem sie ihn zunächst in seiner Offenheit bestärkt, sagt sie ihm klar und deutlich, dass sie sich nicht verliebt habe. Das sei aber gut, denn nur so könne die Therapie weiterlaufen. Wenn sich Therapeuten in Patienten verlieben und dennoch die Therapie fortsetzen, ist dies ein eindeutiger Kunstfehler! Gemeinsam überlegen sie, warum und in welche Eigenschaften sich Herr X. verliebt hat. Dabei erkennt er: „Sie hören mir zu und sind für mich da, das kenne ich nicht von Frauen.“ Seine Therapeutin gibt daraufhin den entscheidenden Hinweis: „Ja, aber das kann ich auch erst, seitdem Sie mir Ihre Probleme anvertrauen. Am Anfang haben Sie nur geschwiegen oder wollten über belanglose Dinge reden. Sie haben sich hier in der Therapie sehr verändert. Ich bin gespannt, wie Frauen auf Ihr neues, offenes Verhalten reagieren.“

Nebenwirkung mit Happy End

In allen drei Fällen liegen unerwünschte, durch die Therapie verursachte Ereignisse vor, im Fall von Frau D. sogar schwerwiegende. Jedoch wirken sich diese Begleiterscheinungen bei allen drei langfristig nicht negativ aus. Daher können sie als „kurzfristige Nebenwirkung“ bezeichnet werden – und damit kann gleichzeitig auch der Begriff Nebenwirkung entdramatisiert werden. Denn wie bei der Nebenwirkungsforschung von Medikamenten muss auch im Bereich der Psychotherapie der Verlauf im Ganzen, also das „Kosten-Nutzen-Verhältnis“ betrachtet werden: So stehen die „Kosten“ (Scheidung mit Einsamkeitsgefühlen, Verschlechterung der Symptomatik, unerwidertes Verliebtsein) bei allen Patienten langfristig hinter dem Nutzen zurück: Frau D. beginnt ein neues, selbstbestimmtes Leben. Herr S. gewinnt Autonomie, und Herr X. steht zu seinen Gefühlen, und er spricht über sie. Tatsächlich lernt Herr X. gegen Ende seiner Therapie eine Frau kennen und verliebt sich in sie. Und das Schönste daran ist: Seine Gefühle werden von ihr erwidert.

Über die Autorin Eva-Lotta Brakemeier

Als neu berufene Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Greifswald forscht sie u. a. zu negativen Therapieeffekten und entwickelt individualisierte Therapiekonzepte sowie Apps.

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