Haften Ärzte für sinnloses Leiden?

Heinrich Sening wurde 82 Jahre alt, aber laut seinem Sohn Heinz hätte spätestens mit 80 Schluss sein müssen. „Er war am Ende“, sagt er über die letzten Jahre seines dementen Vaters, der bewegungsunfähig im Bett lag und nicht mehr sprechen konnte. Eine Magensonde hielt ihn am Leben. Eine sinnlose Quälerei, meint sein Sohn, der nun vor dem Bundesgerichtshof auf Schmerzensgeld klagt (Aktenzeichen VI ZR 13/18). „Er durfte nicht sterben“, argumentiert Heinz Sening. Eine Patientenverfügung gab es nicht.

Nun müssen die Richter entscheiden: Kann einem Menschen Schmerzensgeld zustehen, weil ein Arzt sein Leiden unnötig verlängert hat? „Das hat es in der Rechtsgeschichte noch nicht gegeben“, sagt Senings Anwalt Wolfgang Putz. Mit dem Tod des Vaters hat der Sohn alles geerbt – auch die Ansprüche: Vom behandelnden Hausarzt will er mindestens 100.000 Euro Schmerzensgeld wegen „fortgesetzter Körperverletzung“ und mehr als 52.000 Euro Schadenersatz. So viel sollen seit Anfang 2010 Behandlung und Pflege gekostet haben.

Vorinstanz sprach Sohn 40.000 Euro zu

In den ärztlichen Grundsätzen zur Sterbebegleitung heißt es: „Bei Patienten, die sich zwar noch nicht im Sterben befinden, aber nach ärztlicher Erkenntnis aller Voraussicht nach in absehbarer Zeit sterben werden, ist eine Änderung des Behandlungszieles geboten, wenn lebenserhaltende Maßnahmen Leiden nur verlängern würden oder die Änderung des Behandlungsziels dem Willen des Patienten entspricht.“

In der Vorinstanz hatte das Oberlandesgericht München Sening deshalb recht gegeben und ihm 40.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen. Die Sondenernährung diente zumindest in den letzten knapp zwei Jahren der reinen Lebenserhaltung, entschieden die Richter damals.

Der Hausarzt sei zwar nicht verpflichtet gewesen, die Behandlung selbst abzubrechen, heißt es in den Urteilen. Er hätte aber den Betreuer ansprechen und mit diesem sehr gründlich erörtern müssen, ob die 2006 gelegte Magensonde bleiben soll oder nicht. Weil der Sohn in den USA lebt, betreute damals ein Rechtsanwalt den Demenzkranken.

Sowohl Sening als auch der Hausarzt gingen in Revision, deshalb verhandelt nun der Bundesgerichtshof als oberstes Zivilgericht.

„Das hätte er nicht gewollt“

Was Heinrich Sening selbst gewollt hätte, ist unklar. Eine Patientenverfügung hatte er nie verfasst. „Er war ein sehr lebenslustiger Mensch, hat immer gesagt, ich will einmal sehr alt werden, 100 Jahre“, sagt sein Sohn, der selbst Kranken- und Altenpfleger ist. „Aber das hätte er nicht gewollt, da bin ich mir ziemlich sicher.“

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz rät jedem, rechtzeitig vorzusorgen und für Situationen wie Wachkoma, Organversagen oder eben Demenz präzise Behandlungsanweisungen niederzuschreiben. „So wird die Selbstbestimmung bis zum Tod gesichert“, sagt Vorstand Eugen Brysch. „Hätte eine Patientenverfügung vorgelegen, wäre der Prozess überflüssig.“ Nach seinen Erfahrungen hat bei den Ärzten ein Umdenken eingesetzt, Übertherapie komme immer seltener vor.

Anwalt Putz geht trotzdem davon aus, dass es Jahr für Jahr Tausende Fälle wie den aktuell verhandelten gibt. Mit einem Grundsatz-Urteil will er medizinische Standards erzwingen. „Leider ist es so, dass man schlechte Ärzte nur über Sanktionen korrigieren kann“, sagt er.

Der Anwalt vertritt seit Jahren Mandaten in Rechtsstreits rund um das Thema Sterbehilfe. 2007 riet er einer Mandantin den Sondenschlauch ihre Mutter selbst durchzuschneiden, die im Wachkoma lag. Das Landgericht Fulda verurteilte ihn wegen versuchten Totschlags – der Bundesgerichtshof sprach ihn jedoch frei. Die Patientin hatte sich früher gegen eine künstliche Ernährung ausgesprochen. Für den BGH rechtfertigt das nicht nur den Behandlungsabbruch, sondern auch ein „aktives Tun“.

Wann genau das Urteil fällt, ist noch unklar. Möglich ist, dass das Gericht bereits heute oder erst in den kommenden Wochen entscheidet.

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